19990512.02 Ich habe zugleich, nebeneinander, in Parallele, sozusagen Kierkegaards Diapsalmata und Tagebuch des Verfuehrers einerseits und Erich Fromms Man for Himself gelesen. Als ich das letztere im Buecherboert entdeckt hatte, und die ersten paar Seiten darin gelesen, da befielen mich Enttaeuschung und Unmut darueber, dasz die Frage um die Ethik, welche mich nun seit Monaten so lebhaft beschaeftigt, ja schon laengst beantwortet sei; dasz weil mir die Schriften des kundigen Verfassers nicht rechtzeitig in die Haende gefallen waren, oder wo ich mit ihnen bekannt gewesen sein mochte, ihre Bedeutung mir nicht eingeleuchtet hatte, aus dieser Ursache hatte ich meine Zeit, und ein gut Teil des mir noch bleibenden Daseins, vertan; denn es war mir offensichtlich, dasz Fromm meint die Antworten auf alle Fragen welche mich beschaeftigen und bekuemmern zu besitzen, und auf viele mehr; dasz sein Buch einem die Lebensarbeit des Suchens und Nachdenkens erspart, so dasz man den Muehen enthoben ist, und stracks damit beginnen kann, ein liebender, guter und produktiver Mensch zu sein. Fromm schreibt mit einer berueckenden Selbstsicherheit; seine Kenntnisse scheinen enzyklopaedisch, universell. Als Zeugen, um seine Gedankengebilde zu beweisen, zieht er den Aristoteles, Spinoza, Calvin, Luther, Kant, Stirner, Nietzsche und William James auf den Zeugenstand, und verlautbart mit unerschuetterlicher Bestimmtheit, was diese auszusagen haben, indessen der ungebildete Leser in Staunen und Scham vor des Verfassers ungeheuerer Gelehrtheit zu versinken in Gefahr ist. So etwa stelle ich mir vor, dasz Kierkegaards Geist unter der Hegelei gelitten haben musz, unter dem blasierten Zurseiteschieben aller Schwierigkeiten, wo doch gerade das Ringen mit den Schwierigkeiten die Probe ist daraus der Segen flieszt. Ich blicke zum zweiten Mal in dieses Buch und bemerke, dasz da etwas behauptet wird, was nicht stimmt, und beim dritten Mal leuchtet mir ein, dasz nichts stimmt: dasz fast jeder Satz eine schale Verallgemeinerung ist, welche dahinfaellt sobald man fragt, was bedeutet dieser Satz, wie kann der Verfasser dies wissen, und wenn er dies nicht wissen kann, wie kann er es als unbezweifelbar behaupten? Und diese Frage birgt schon die Antwort, dasz er es tatsaechlich nicht weisz, dasz er nur so tut als ob er es wueszte, genau wie der Jesusspieler in Oberammergau so tut als ob er Jesus waere, und man tut so als ob man es ihm glaubte, aus Dummheit oder aus Hoeflichkeit. Das alles ist leicht gesagt und leicht geschrieben; denn wenn man diese, Erich Fromms Ausfuehrungen unglaubbar findet, weil sie sich in keinem Falle bestimmen lassen, und weil sie schon auf der Hand, on the face of it, prima facie, dem ernsten Menschen jedenfalls, unglaubbar sind, dann wird man auch, wenn man konsequent ist, andere, weniger eklatante, weniger anspruchsvolle Behauptungen mit gleicher Berechtigung und mit gleicher Notwendigkeit ablehnen. wie etwa was taeglich in den Zeitungen steht, was im Fernsehen und Radio berichtet wird: denn auch alles das sind Verallgemeinerungen welche ich aus eigenem Erleben nicht zu bestaetigen, nicht nachzuempfinden vermag; welche sich wie ein fremdes Biologikum in meinem Gemuet einnisten, mich zwingend ihre taeuschend verfuehrerischen Gebilde nachzubilden, und ihre taeuschend verfuehrerischen Gedanken nachzudenken. Die Alternative aber ist, wie mir scheint, nicht sehr verlockend. Sie verlangt zuerst, jeglichen Anspruch auf Wissen und auf Gewusztes aufzugeben, sich zu einem scio me nescire, ich weisz, dasz ich nichts weisz, zu einem Cogito ergo sum, das einzige das ich weisz, ist das ich bin, zu bekennen und hernach sein Leben mit dem verzweifelten Versuch zu fristen, die Scham des Nichtwissens, die Scham des Nichtzuwissenvermoegens zu bedecken. Es verlangt die Liebe zum Wissen, die wahre Philosophie, die zu nennen, die Anzurufen ein rechtschaffener Mensch sich schaemen musz, nicht weniger als er sich schaemt den Namen Gottes anzurufen, ein Opfer, ein sehr groszes Opfer, das Opfer seine Heimat, sein Zuhause aufzugeben, bereit um des Hoechsten Willen ein Wanderer, ein verachteter, wenn auch nicht, oder vielleicht doch, Gekreuzigter zu werden. Entscheidend ist, dasz der Mensch des Wissens halber bereit sein musz Opfer zu bringen, Opfer welche vergleichbar sind, und vielleicht zuletzt ununterscheidbar von dem Opfer das sein Sichselbstwerden, sein Abstieg - oder Aufstieg in die Welt der Innerlichkeit erfordert. Der Weg zur Wahrheit ist alles andere als ein Triumph. * * * * *

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