20000223.00 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Dank fuer Euern Brief, welchen ich unverzueglich beantworten will, aus Besorgnis dasz Ihr, wenn nicht jetzt vielleicht erst nach uebermaeszig verstrichener Zeit, oder nie, eine Antwort darauf bekaemt. So bin ich mir peinlich bewuszt, Euern vorletzten Brief ueberhaupt nicht beantwortet zu haben, ein Versaeumnis fuer welches ich kaum eine Entschuldigung zu bieten habe, es sei denn dasz meine Tage mit so intensiver Bautaetigkeit verausgabt wurden, dasz ich mir nicht die Zeit goennte die zu einem Brief erforderliche Sammlung der Gedanken und Klaerung der Gefuehle zu bewaeltigen. Aeuszerliches gibt es von uns kaum etwas zu berichten. Gesundheitlich geht es uns dem Alter entsprechend leidlich gut. Vor einigen Monaten erfuhr Margaret auf Grund einer Druckstoerung des sciatic nerve eine unvollstaenige Laehmung des rechten Fuszes, welche sie beim Gehen beschwerte, sich seither aber wesentlich verbessert hat. Abgesehen von den wenigen Patienten welche ich noch verarzte, beschaeftige ich mich fast ausschlieszlich mit dem Anbau zu unserem Hause welchen ich Euch schon in einem frueheren Brief beschrieb. Weil ich sie fast vollkommen allein bewerkstellige, geht die Arbeit nur langsam vor sich. Im Augenblick beschaeftigt mich der Einbau der dreistoeckigen Wendeltreppe. Dann kommt das Streichen der Gipswaende, das Einbauen der Innentueren und der eichenen Fuszboeden; der Einbau des Kachelwerks in den Badezimmern und zuletzt die Installierung von Waschbecken, Toiletten und Beleuchtungskoerpern. Es sollte moeglich sein, diese Arbeiten in drei Monaten zu beenden, aber wahrscheinlich wird es laenger dauern, und manchmal fuerchte ich dasz ich nie damit fertig werde. Und es ist letzten Endes diese Besorgnis die mich zu so ununterbrochener Arbeit getrieben hat, dasz ich meine Antwort auf Euern Brief versaeumte. Sogar meine dilettantischen literarischen Bemuehungen habe ich mir unterbrechen lassen. Ich beabsichtige sie, so bald dieser Excurs ins Handwerk es mir erlaubt, wieder aufzunehmen. Wenn ich zum Arbeiten zu muede bin, oder im Auto oder sonst zum Warten genoetigt bin, lese ich mit viel Bewunderung in Franz Schnabels Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, ein bemerkenswertes Werk das Euch sicherlich bekannt ist. Dabei erinnere ich Rilkes Feststellung: "Das was geschieht, hat einen solcehn Vorsprung vor unserm Meinen, dasz wir es nie einholen, und nie erfahren, wie es wirklich aussah." und frage mich, wie die Grenze zwischen Mythos und gewesener Wirklichkeit zu bestimmen waere, oder ob das Bestehen einer solchen Grenze nicht vielleicht auch Taeuschung ist. Indem ich aelter werde, duenkt mich das Leben traumhaft in steigendem Masze, so dasz ich nicht selten vor eine Erinnerung trete, wie vor ein geheimnisvolles Gemaelde, und mich frage, ist es die Wirklichkeit oder ist es nur Vorstellung die ich zu erinnern meine. * * * * *

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