20000519.00
Wenn also, und insofern, das Wissen als gesellschaftliche
stat als persoenliche Leistung verstanden werden musz, obliegt es
der Erkenntnistheorie sich nicht nur an der Psychologie des
Einzelnen sondern, und dies vielleicht ueberwiegend, an der
Soziologie der Gesellschaften zu entwickeln. Mich duenkt, die
Faehigkeiten des Einzelnen, zu sehen, zu hoeren, zu erinnern, zu
erlernen, und dem Erlernten Ausdruck zu geben, sind reichlich,
wenn vielleicht auch nicht ausreichend, erwogen worden. Indessen
ist der Ursprung des Wissens aus dem Zusammenwirken einer
Mehrzahl von Gemuetern unbeachtet geblieben.
Dasz ein Einzelner vieles erspaeht, manches bedenkt, und
einiges beschlieszt, ist eine allgemeine Erfahrung; wobei
unbeachtet bleibt, inwieweit sich dies Erspaehen, Bedenken, und
Beschlieszen in Abwesenheit gesellschaftlicher Anregungen haette
entwickeln koennen. Auf der Hand liegt die Tatsache, dasz der
Einzelne ein starkes Beduerfnis empfindet, alles was er erspaeht,
bedacht und beschlossen hat an den Erspaehnissen, Bedenken und
Beschluessen seiner Mitmenschen zu pruefen, und das eigene
Erleben mit fremdem in Einklang zu bringen.
Dergleichen Uebereinstimmung entwickelt sich in erster Linie
durch Mimesis, dadurch, dass der Einzelne das allgemeine Erleben
und das allgemeine Urteil darueber sich einverleibt; so etwa der
Vorgang der Erziehung und Ausbildung wie er in unseren
Lehranstalten, vom niedrigsten bis zum hoechsten Range, betrieben
wird.
Es geschieht dann wie von selbst, ohne Anweisung oder
Ueberlegung, dasz sich unter den Einzelnen deren Geist in dieser
Weise in den gemeinschaftlichen Geist verwoben wird,
unabhaengige, aufruehrerische Seelen befinden, welche nicht
bereit sind, das ihnen Dargebotene kritiklos auf und anzunehmen.
Sie entwickeln (elaborate) sich ein eigenes Bild, eine eigene
Erklaerung, einen eigenen Entschlusz. Aus ihrer Unabhaengigkeit
entseht Konflikt und Kampf; a contest, a competition; indes die
Aufruehrer, jedenfalls soweit ihr Beitrag (contribution) reicht,
soweit ihr Beitrag gueltig (stichhaltig) ist, sich als die neuen
Gesetzgeber, die neuen Maszrichter des Geistes vorstellen.
Genau besehen geht ein solches Verfahren von jeher und
ueberall unter der Oberflaeche (Kruste) des Lernens vor sich.
Denn erstens liegen im Erlernen ueberhaupt wesentliche
Hindernisse, Hindernisse welche je nach der Schwierigkeit des
Stoffes und entsprechend der Faehigkeit und Neigung des Schuelers
groeszer oder geringer sind. Von dieser Reibung, dieser
Laestigkeit, dieser Muehe des Erlernens aus Schwaeche erstreckt
sich ein nahtloser Uebergang zur Laestigkeit des Erlernens aus
Staerke, eben darum weil der Schueler eine tiefere Einsicht, ein
gueltigeres (besseres) Verstaendnis hat, oder zu haben meint, als
der Lehrer.
Dies ist, aus weiterer Sicht, ein sehr wesentlicher Punkt,
denn obgleich die Gesellschaftsordnung bei dem Lernkonflikt die
Ueberlegenheit des Lehrers vorauszusetzen scheint, ist diese
Ueberlegenheit keineswegs gesichert: denn die Ueberlegenheit des
Schuelers offenbart sich in derselben Weise wie seine
Unterlegenheit, wie sein Versagen: als Streit mit der Ordnung;
als Zwist mit der Behoerde.
So ist die Vergesellschaftung des Wissens ein Vorgang
laufender Spannungen zwischen Lehrer und Schueler, zwischen
Gelehrtem und Lernendem, ein fortwaehrender Widerstreit. Nicht
gesetzt oder statisch ist das Wissen. Es ist eine lebendige,
dynamische Entwicklung welche freilich nicht immer konstruktiv,
aufbauend ist, eine Entwicklung welche auch zuweilen, unter
Umstaenden, zerstoererisch und verheerend auszugehen vermag.
Die respektiven Ursachen solcher verschiedenen Ergebnisse
des Wissensstreites liegen auf der Hand, sind offenbar. Die
wesentlichste Ursache eines konstruktiven Ausgangs des
Wissensstreites ist die Wirksamkeit, die Nutzbarkeit ihres
Ergebnisses. Alle bedeutenden Entdeckungen bewaehren sich
dadurch, dasz sie sich als brauchbar, nuetzlich, erfolgreich
erweisen, so dasz sie binnen kurzer Zeit als unentbehrlich
erscheinen. Andererseits aber taeuschen sich die Menschen nicht
selten ueber den Wert ihres Wissens, messen dem vermeintlich
Gewussten eine magische Bedeutung zu und verehren Unwesentliches
und Nichtiges. Umso gewichtiger ist dieser Fehler als sich die
Menschen an ihr Wissen klammern wie an persoenliches Eigentum,
und ihres Wissens Gueltigkeit verfechten nicht weil es wahr,
sondern weil es ihr eigen ist.
Diesen Widerstreit, diesen Gegensatz zwischen der Wahrheit
und dem persoenlichen Interesse daran, was als wahr gelten
sollte, zu klaeren ist eine der ersten grundlegenden Aufgaben
einer jeden Erkenntnistheorie, eine Aufgabe von solcher
Bedeutung, dasz sie tatsaechlich auch unbenannt in das Programm
einer jeden Wissenschaft die diesen Namen verdient, aufgenommen
worden ist.
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