20000807.00
Liebe Gertraud und lieber Bernd,
Ich sitze auf unserer Veranda in Konnarock, in den Bergen
Virginias und wenn ich durch das dunkle Gruen der Baeume auf die
grau benebelten Gipfel im Hintergrund blicke, dann vertippe ich
mich. Margaret und ich sind nun wieder seit zwei Wochen hier. Es
ist die dritte Reise in diesem Sommer; insgesamt haben wir in
diesem Jahr fast acht Wochen hier verbracht, und auf jede Reise,
zugleich als Eingestaendnis und als Entlastung sei es gesagt,
habe ich Gertrauds letzten Brief in meine Aktentasche gesteckt
mit dem Vorsatz ihn von dieser Veranda aus, bei naechster
Gelegenheit, zu beantworten. Und immer habe ich etwas dazwischen
kommen lassen, das geborstene Heiszwasserrohr weil ich es vor
drei Jahren dummerweise aus billigem Kunststoff (PVC -
polyvinylchloride) eingebaut hatte und nun die ganze Anlage mit
Kupfer ersetzen muszte, die Ueberschwemmung im Keller weil ich
dummerweise die Dachrinnen, die ein uebereifriger Maler
abgerissen hatte, noch nicht ersetzt hatte, ach, es war immer
etwas anderes das mich abzuhalten schien, aber im Grunde doch nur
Ausfluechte.
Abgesehen von den Reparaturen und von den Wanderungen in den
Bergen bietet mir der Aufenthalt hier Gelegenheit zum Lesen und
zum Schreiben. So auch dieses Mal. Ich hatte mir vor unserer
Abreise das dreibaendige Werk Ernst Cassirers, "Die Philosophie
der symbolischen Formen" bei der Universitaetsbibliothek
ausgeliehen, ein Buch welches mich seit Jahren lockte, das ich
aber nur in englischer Uebersetzung auf meinen Boerten hatte,
einer Uebersetzung der ich nicht traute weil die Gedanken sehr
schwer verstaendlich sind, und ich befuerchtete, dasz der
Uebersetzer selbst sie nur zum Teil verstanden hatte.
Cassirer war Kantianer, ein Schueler von Hermann Cohen und
Paul Natorp. Wenn ich nicht irre, nannte man sie "die marburger
Schule". Ich erklaere mir Cassirers Postulat, dasz all unsere
Erkenntnis mittels "symbolischer Formen" stattfindet eine
bewuszte Fortsetzung von Kants Behauptung, dasz was wir erkennen
nicht die "Dinge an Sich" sind sondern synthetische Gebilde zu
welchen wir von den Regeln unsers Anschauungsvermoegens bestimmt
werden. Diese Regeln praezisiert Cassirer mit groszem Fleisz und
mit groszer Gelehrsamkeit auf den verschiedensten Gebieten als
"symbolische Formen: in der Sprache, im Mythos, in der Mathematik
und in der Naturwissenschaft. So ueberzeugend die Darstellung
dieser symbolischen Formen, so mangelt es doch an einer
Erklaerung, wie sie entstehen, wie man sich vorstellen soll dasz
im menschlichen Gemuet ausgerechnet solche Formen bereitet sind
die den sonst unerkennbaren "Dingen an Sich" entsprechen. Fast
scheint es mir, wenn ich ihn recht verstehe, Cassirer mueszte um
dies zu erklaeren auf Leibnizens praestabilierte Harmonie
zurueckgreifen.
Insofern man dergleichen Spekulationen ueberhaupt ernst
nimmt, ist der Ursprung der vermeintlichen symbolischen Formen
von groszem Interesse. Dem Augenarzt sollte es kaum
verwunderlich scheinen, in Anbetracht der regelmaessigen
Erscheinung von "Nachbildern" (afterimages) im ploetzlichen
Dunkel, und in Anbetracht des regelmaessigen Eintritts der
Stumpfsichtigkeit (Amblyopie) im abgedeckten Kinderauge, dasz die
vom Auge wahrgenommene Gestalten nicht nur vorueberhuschende
Bildeindruecke, sondern auch dauerhafte Veraenderungen im Gemuet,
- oder wenn man will, im Gehirn, - zu bewirken faehig sind.
Warum sollten also nicht auch, auf Wegen die voellig unbewuszt
bleiben, symbolische Formen in dieser physiologisch
selbstverstaendlichen Weise zustande kommen? Wenn man diese
Moeglichkeit so lange uebersehen hat, so mag das der Fall sein,
weil wie der Mensch, ungeachtet aller widrigen Evidenz, sein Ich
als unsterblich betrachten moechte, sich gleichfalls als
unveraenderliches Substrat aller seiner Wahrnehmungen betrachtet,
Waehrend doch zum Beispiel die Erziehung des Kindes beweist, wie
veraenderlich, wie preisgegeben den Einwirkungen denen er
ausgesetzt, der Mensch doch tatsaechlich ist.
Ihr bekommt also eine Vorstellung, mit welcher Art
Gespinsten ich meine Zeit und Kraft verbringe; und indem ich sie
Euch beschreibe, stellt sich mir die Frage ob es vielleicht
besser waere Euch mit keinem Briefe zu belaestigen als solche
Mitteilungen an Euch ergehen zu lassen. Ich weisz es nicht.
Morgen fahren Margaret und ich zurueck nach Belmont, eine Strecke
von 1325 Kilometer die zwei Tage in Anspruch nimmt. Wir
uebernachten in der Naehe von Harrisburg, Pennsylvania. Wenn
alles gut geht, sind wir uebermorgen, am Mittwoch, spaet
nachmittags, zuhause.
In dem Anbau, - nach zwei Jahren schaeme ich mich ihn noch
als "neu" zu bezeichnen, - habe ich noch zwei Zimmer mit eichenen
Fuszboeden auszulegen und drei Badezimmer zu verkacheln. Ich
denke, ungefaehr acht Wochen Arbeit fuer mich, aber
unterschaetzen tue ich sie ja immer. Inzwischen wird es Herbst
werden, und dann Winter, und gelegentlich werde ich dann wieder
schreiben, und vielleicht auch von Euch hoeren.
Margaret laeszt grueszen. Betreffs der Neuordnung der
Orthographie, halte ich es, wie ihr seht, so gut ich kann, mit
der Allgemeinen Frankfurter Zeitung.
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