20000807.01 Ernst J. Meyer 174 School Street. Belmont, Massachusetts 02478 617-484-8109 617-489-1043 Internet: review@netcom.com am 7. August 2000 Liebe Gertraud und lieber Bernd, Ich sitze auf unserer Veranda in Konnarock, in den Bergen Virginias und wenn ich durch das dunkle Gruen der Baeume auf die grau benebelten Gipfel im Hintergrund blicke, dann vertippe ich mich. Margaret und ich sind nun wieder seit zwei Wochen hier. Es ist die dritte Reise in diesem Sommer; insgesamt haben wir in diesem Jahr fast acht Wochen hier verbracht, und auf jede Reise, zugleich als Einge- staendnis und als Entlastung sei es gesagt, habe ich Ger- trauds letzten Brief in meine Aktentasche gesteckt mit dem Vorsatz ihn von dieser Veranda aus, bei naechster Gele- gen- heit, zu beantworten. Und immer habe ich etwas dazwis- chen kommen lassen, das geborstene Heiszwasserrohr weil ich es vor drei Jahren dummerweise aus billigem Kunststoff (PVC - polyvinylchloride) eingebaut hatte und nun die ganze Anlage mit Kupfer ersetzen muszte, die Ueberschwemmung im Keller weil ich dummerweise die Dachrinnen, die ein ue- bereifriger Maler abgerissen hatte, noch nicht ersetzt hatte, ach, es war immer etwas anderes das mich abzuhalten schien, aber im Grunde doch nur Ausfluechte. Abgesehen von den Reparaturen und von den Wan- derungen in den Bergen bietet mir der Aufenthalt hier Gelegen- heit zum Lesen und zum Schreiben. So auch dieses Mal. Ich hatte mir vor unserer Abreise das dreibaendige Werk Ernst Cassir- ers, "Die Philosophie der symbolischen Formen" bei der Uni- versi- taetsbibliothek ausgeliehen, ein Buch welches mich seit Jahren lockte, das ich aber nur in englischer Ueberset- zung auf meinen Boerten hatte, einer Uebersetzung der ich nicht traute weil die Gedanken sehr schwer verstaendlich sind, und ich befuerchtete, dasz der Uebersetzer selbst sie nur zum Teil verstanden hatte. Cassirer war Kantianer, ein Schueler von Hermann Cohen und Paul Natorp. Wenn ich nicht irre, nannte man sie "die marburger Schule". Ich erklaere mir Cassirers Postulat, dasz all unsere Erkenntnis mittels "symbolischer Formen" statt- findet eine bewuszte Fortsetzung von Kants Behauptung, dasz was wir erkennen nicht die "Dinge an Sich" sind sondern syn- thetische Gebilde zu welchen wir von den Regeln unsers An- - 2 - schauungsvermoegens bestimmt werden. Diese Regeln praezisiert Cassirer mit groszem Fleisz und mit groszer Gelehrsamkeit auf den verschiedensten Gebieten als "symbol- ische Formen": in der Sprache, im Mythos, in der Mathe- matik und in der Naturwissenschaft. So ueberzeugend die Darstel- lung dieser symbolischen Formen, so mangelt es doch an einer Erklaerung, wie sie entstehen, wie man sich vorstellen soll dasz im menschlichen Gemuet ausgerechnet solche Formen bereitet sind die den sonst unerkennbaren "Dingen an Sich" entsprechen. Fast scheint es mir, wenn ich ihn recht verste- he, Cassirer mueszte um dies zu erklaeren auf Leib- nizens praestabilierte Harmonie zurueckgreifen. Insofern man dergleichen Spekulationen ueberhaupt ernst nimmt, ist der Ursprung der vermeintlichen symbolischen For- men von groszem Interesse. Dem Augenarzt sollte es kaum verwunderlich scheinen, in Anbetracht der regelmaessi- gen Er- scheinung von "Nachbildern" (afterimages) im ploet- zlichen Dunkel, und in Anbetracht des regelmaessigen Eintritts der Stumpfsichtigkeit (Amblyopie) im abgedeckten Kinder- auge, dasz die vom Auge wahrgenommene Gestalten nicht nur vorue- berhuschende Bildeindruecke, sondern auch dauerhafte Veraen- derungen im Gemuet, - oder wenn man will, im Gehirn, - zu bewirken faehig sind. Warum sollten also nicht auch, auf Wegen die voellig unbewuszt bleiben, symbolische Formen in dieser physiologisch selbstverstaendlichen Weise zus- tande kommen? Wenn man diese Moeglichkeit so lange ueberse- hen hat, so mag das der Fall sein, weil wie der Mensch, ungeachtet aller widrigen Evidenz, sein Ich als un- sterblich betrachten moechte, sich gleichfalls als unveraender- liches Substrat aller seiner Wahrnehmungen betrachtet, waehrend doch zum Beispiel die Erziehung des Kindes beweist, wie ver- aenderlich, wie preisgegeben den Einwirkungen denen er aus- gesetzt, der Mensch doch tatsaechlich ist. Ihr bekommt also eine Vorstellung, mit welcher Art Gespinsten ich meine Zeit und Kraft verbringe; und in- dem ich sie Euch beschreibe, stellt sich mir die Frage ob es viel- leicht besser waere Euch mit keinem Briefe zu belaesti- gen als solche Mitteilungen an Euch ergehen zu lassen. Ich weisz es nicht. Morgen fahren Margaret und ich zurueck nach Belmont, eine Strecke von 1325 Kilometer die zwei Tage in Anspruch nimmt. Wir uebernachten in der Naehe von Harrisburg, Penn- sylvania. Wenn alles gut geht, sind wir uebermorgen, am Mittwoch, spaet nachmittags, zuhause. In dem Anbau, - nach zwei Jahren schaeme ich mich ihn noch als "neu" zu bezeichnen, - habe ich noch zwei Zim- mer mit eichenen Fuszboeden auszulegen und drei Badezimmer zu verkacheln. Ich denke, ungefaehr acht Wochen Arbeit fuer mich, aber unterschaetzen tue ich sie ja immer. In- zwischen wird es Herbst werden, und dann Winter, und gele- gentlich werde ich dann wieder schreiben, und vielleicht auch von Euch hoeren. Margaret laeszt grueszen. Entschuldigt, bitte, meine Verstoesze gegen die Neuordnung der Orthographie. * * * * *

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