20010804.00 Liebe Gertraud, Lieber Bernd, Wenn ich hier in den Bergen Virginias auf der Veranda des Hauses meiner verstorbenen Eltern sitze, dann besinne ich mich darauf, dass es Zeit ist Euch wieder einmal zu schreiben. Gertrauds letzten Brief, der vor einigen Monaten ankam, habe ich diesmal nicht mit gebracht; er liegt neben der Tastatur meines Rechners im nun beschaemend erweiterten "Palais Meyer", wie Gertraud es einst bezeichnete; aber ich besinne mich seines Inhalts, insofern als ich ihm zu entnehmen meinte, dass es Euch gesundheitlich leidlich gut geht, dass Gertraud ihr Lehramt niedergelegt hat, und dass ihr das kommende Jahr in Frankreich verbringen werdet. Ich hoffe aber dass dieser Brief Euch noch in Kierspe erreicht, oder wenn nicht, dass er Euch nach Frankreich nachgesandt wird. Seit ich Euch zum letzten Mal schrieb ist, bis auf drei Tage, ein ganzes Jahr verstrichen, und es hat sich in unserem Leben nur weniges veraendert, am schwerwiegendsten bei Margaret eine Verschlimmerung der Gelenkbeschwerden im linken Knie, welche sie veranlasst meist an einem, manchmal sogar an zwei Stoecken zu gehen, das Spazierengehen beschwerlich, das Wandern unmoeglich macht. Es ist wohl diese Behinderung die uns von Reiseplaenen zurueckhaelt. Der Anbau zu unserem Hause in Belmont ist nun soweit fortgeschritten, dass ich unmittelbar nach unserer Rueckkehr naechste Woche die zwei abschliessenden Bauinspektionen beantragen werden, und sobald diese hinter uns liegen, sollte uns umgehend die Wohnungserlaubnis (occupancy permit) fuer die neu hinzugefuegten Zimmer erteilt werden. Nun, da diese Bauarbeit abgeschlossen ist, bin ich unschluessig womit ich hinfort meine Zeit verbringen und woran ich meine Kraft wenden sollte. Meine aerztliche Praxis nimmt kaum einen Tag die Woche in Anspruch. Sie hat bis auf etwa 350 Patienten im Jahr abgenommen und in Anbetracht von Margarets Behinderung, und unser beider Alter und in Anbetracht besonders der unguenstigen beruflich- gesellschaftlichen Lage, bin ich nicht gestimmt meine medizinische Taetigkeit zu erweitern. Ich erwaege die Moeglichkeit in den Bergen New Hampshires, wo wir seiner Zeit ein verfallenes Bauerngut erstanden, oder auf der Insel Nantucket ein Haus zu bauen. Die Tatsache dass ich bis auf die Ausschachtung, und den Bau von Mauern, Waenden und Dach, die andere notwendige Arbeit saemtlich selbst zu tun in der Lage bin, macht ein solches Unternehmen nicht nur wirtschaftlich moeglich sondern auch ergiebig. Wobei ich nicht vergessen darf, dass auch ich aelter werde und moeglicherweise nicht in der Lage sein wuerde eine begonnene Arbeit zu Ende zu fuehren. Und letzten Endes frage ich mich, wieviele Haeuser ich zu bewohnen vermag, und was einst aus all diesen Gebaeuden werden soll. Ich fuerchte aber die Burgen und Schloesser und Dome in deren Schutz und Schatten mein Leben erwachte, haben es mir mit einer unheilbaren Leidenschaft fuer die Baukunst angetan; und ich denke, dass wenn ich heute jung waere und einen Beruf waehlen muesste, ich die Taetigkeit auf diesem Gebiete der Medizin vorziehen wuerde. Hinzu kommt, dass ein Gebaeude wie ich es soeben fertig gestellt habe eine Gueltigkeit und Brauchbarkeit besitzt welche ein weiteres ungelesenes Manuskript, fuer das ich nicht einmal einen Verleger suche, geschweige denn dass ich ihn faende, kaum zu beanspruchen vermag. Gelesen habe ich in letzter Zeit in Franz Schnabels Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrundert, ein Werk dessen Aufgeschlossenheit fuer alles Menschliche und dessen wunderbares Deutsch mir Freude macht, jedes Mal ich darin blaettere. Weniger erfreulich ist mir Wilhelm Diltheys "Jugendgeschichte Hegels" mit Diltheys verstaendnis- und kritiklosem Nachschwaetzen von Hegels theologisch- kulturellem Antisemitismus. Hegel naemlich verficht die These dass Abrahams entwurzelte Heimatlosigkeit seinem Glauben an einen unerreichbaren, menschenfeidlichen, despotischen Gott entsprach, und dass dieser Glaube das juedische Volk veranlasste sich selbst mit dem Dienste dieses furchtbaren Gottes zu verstuemmeln und als Entschaedigung fuer seine selbstgewirkte seelische Verkrueppelung sich gegen alle anderen Voelker, gegen die ganze Menschheit, als das einzige auswerwaehlte Volk seines tyrannischen Gottes zu bestimmen. Zum Vergleich zitiert Hegel die griechischen Goetter, welche, so behauptet er, mild und versoehnend den Menschen den Weg zu einem paradiesischen Erdenleben weisen. In meiner Theologie ist es genau umgekehrt: die Heimatlosigkeit und der ihr entspringende Glaube an eine unsichtbare, unerreichbare, transzendentale monotheistische Gottheit als monumentales Spiegelbild der eigenen Seele, dieser Glaube ist es welche mit der Beseitigung alles "Goetzenhaften" aus der Erlebniswelt des Menschen, die Entwicklung seiner geistigen und seelischen Innerlichkeit und Individualitaet ueberhaupt erst ermoeglicht, waehrend die griechische von Hegel als vorbildlich gepriesene Goetterwelt groesstenteils darin besteht, dass die Menschen sich ihrer Wut, ihrer Brutalitaet, ihrer Verlogenheit entladen indem sie diese in dem Bereich ihrer Gottheiten als normal und selbstverstaendlich wiederentdecken. Mit dieser pseudogeisteswissenschaftlichen Anmerkung soll es fuer heute genug sein. Bleibt gesund, erfreut Euch an der franzoesischen Landschaft die Ihr so liebt, und seid recht herzlich gegruesst von Margaret und von mir. Euer, P.S. Von Zeit zu Zeit veroeffentliche ich was ich schreibe im World Wide Web des Internet unter der Adresse: home.earthlink.net/~ernstmeyer Meine e-mail Anschrift ist: ernstmeyer@earthlink.net * * * * *

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