20010805.00 Das Wesen, der Inbegriff des geschichtlichen Bewusstseins ist die Einbildung, die Vorstellung selbst dort, selbst anwesend, selbst mit dabei gewesen zu sein, das vergangenen Geschehen selbst mit erlebt zu haben. Alle Chronik, alle Geschichte ist in diesem Geiste geschrieben. und die historischen Gegenstaende bewirken, wie ich beschrieben habe, indem sie Anhaltspunkte der Wahrnehmung bieten, eine aufgefrischte Vorstellung des Vergangenen. Diese Eigenart der geschichtlichen Vorstellung bezeichnet, charakterisiert, begruendet, zugleich deren Macht (Kraft) und deren Grenzen: denn einerseits bewirkt sie die Vergegenwaertigung des sonst unerreichbar Vergangenen, andererseits aber beschraenkt sie die Vorstellung auf Umstaende, auf Situationen welche dem Vorstellenden zugaenglich und ertraeglich sind, welche seinen geistigen und koeperlichen Faehigkeiten und Anlagen entsprechen. So liegt schon ein Schatten des Gewollten und Gekuenstelten in der Vorstellung, zum Beispiel die mich in Anbetracht einer aegyptischen Pyramide befaellt: denn waere ich auch beim Bau oder bei der Vollendung jenes Gebaeudes anwesend gewesen, so haette mich doch meine sprachliche und allgemein kulturelle Fremdheit von jeglichem Verstaendnis, von jeglicher Beteiligung an jener Geisteswelt ausgeschlossen. Damit will behauptet sein, dass zur gueltigen geschichtlichen Vorstellung eine gewisse Vereinbarkeit, (Vertraeglichkeit, Compatibility,) eine geistig-seelische Zugehoerigkeit zum Umfelde und Hintergrund des Vorgestellten unentbehrlich sind. Diese Voraussetzung von Vertraeglichkeit (Compatibility, Vereinbarkeit) des Vorstellenden mit den Umstaenden des Vorgestellten ist von besonderer Bedeutung bei den Projektionen und Extensionen, bei den Entwuerfen und Erweiterungen, der geschichlichen Vorstellungen auf Umstaende (Situationen, Lagen) welche dem Vorstellenden auch in einer hypothetischen Gegenwart prinzipiell unzugaenglich und unerreichbar waeren. Dabei meine ich besonders paleontologische, biologisch historische und kosmologische Vorstellungen. Es ist diese besondere Unzugaenglichkeit, welche, zum Beispiel, ueber die Darwinsche Evolutionstheorie (Entwicklungslehre) den Schleier, den Schatten des Unglaublichen, des Unglaubhaften, wirft (casts, erstreckt); mit der Folge, dass der naive historische Hinweis: Du bist dabei, Du bist dabei gewesen, Du haettest dabei gewesen sein koennen, dass dieser Hinweis bei einer ganzen Klasse historischer oder pseudo-historischer Vorstellungen voellig ausfaellt, voellig fehlt, voellig versagt. Ein anderes Beispiel bieten die kosmologischen Entstehungstheorien der Physiker welche zwar inbegriffen (implicitly) eine menschliche Beobachtungskraft, eine menschliche Erlebnismoeglichkeit voraussetzen, wo auch nur die woertliche Designierung, die Moeglichkeitseinraeumung einer solchen Sache einen praktischen Widerspruch besagt der unumwunden absurd ist. Aber gerade wegen einer solchen Absurditaet, gerade wegen der unverkennbaren Tatsache, dass historische Vorstellungen gewoehnlich (routinely, ueblich, gebraeuchlich) auf die Bereiche der Geologie, der Paleontologie, der Evolutionslehre und der Kosmologie ausgedehnt werden, muss ich fragen, ob oder inwiefern diese Ausdehnung, diese Extension, diese Abwandlung erlaubt oder legitim ist, oder in welcher Hinsicht diese Geschichtserweiterung neue oder andere, beschraenktere oder erweiterte Kriterien der Gueltigkeit des Historischen erforderlich machen. und welcher Art diese Beschraenkungen oder Erweiterungen denn sein muessten. Andererseits, aus anderer, entgegengesetzter Perspektive mag die Erweiterung der historischen Vorstellung auf Vorzeitiges und Jenseitiges auf auch hypothetisch Unerlebbares eine neue, ungeahnte Dimension aller (jeglicher) historischen Vorstellung anzeigen. Diese neue Dimension wuerde besagen, oder besagt, dass der Sinn der historischen Vorstellung keineswegs nur (oder ueberhapt nicht) die Erweiterung, Vertiefung, Ausdehnung des Erlebnisbereiches ist, sondern dass die historische Vorstellung eine instrumentale Bedeutung hat, insofern als sie dem Menschen neue Handlungsmoeglichkeiten eroeffnet, dass sie ihn auf geistige Gefilde fuehrt, auf welchen seine Phantasie, seine Einbildungskraft, seine Entdeckung und Erfindungslust, seine logische und mathematische Begabung ihm neue Bereiche der Wirkung erschliessen. Hinzuzufuegen ist die Vermutung, dass die historische Vorstellung prinzipiell ununterschieden ist von nicht- historischen Vorstellungen, oder dass alle Vorstellungen im Grunde historisch sind, weil die Gegenwart uns unerreichbar ist. Waere dies der Fall, so waere das Etikett "historisch" mit dem wir eine gegebene Vorstellung bezeichnen eine relativ willkuerliche Benennung welche durch die Anwendung eines wiederum willkuerlichen mathematischen Massstabes beschrieben zu werden vermag. So moechte mag bestimmen dass alle Vorstellungen von Gegebenheiten aelter als eine Minute, eine Stunde, einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr historisch sind, hingegen Vorstellungen von juengeren Gegebenheiten nicht-historisch oder gegenwaertig. Schon der Ansatz zu einer Begriffsbestimmung deutet auf deren Willkuerlichkeit. Vorbildlich nicht-historisch moechten die Vorstellungen sein welche sich auf vermeintlich unveraenderliche sichtbare und unsichtbare Strukturen beziehen. So etwa das Bild der Landschaft welche sich vor meinem Fenster erstreckt, mit Rasen und Baeumen, Postkasten und Fahrweg, blauem Himmel und einer weissen Wolke. Dies Bild, und meine Vorstellung davon ist nicht-historisch insofern diese Landschaft unveraendert bleibt, insofern ich voraussetze, dass die Wolke nicht zieht, die Blatter nicht im Winde zittern, und die Schatten sich nicht mit dem Lauf der Sonne verschieben, oder dass, insofern sie es tun, diese Veraenderungen so gering sind, oder so geringfuegig, dass sie der Unveraenderlichkeit der Gesamtvorstellung keinen Abbruch tun. Auch die Gegebenheiten welche die Vorstellungen der Physik und Chemie bestimmen, sind insofern sie als regelmaessig bewertet werden, nicht historisch. So etwa, dass eine Flamme von einem Wasserstrahl geloescht zu werden vermag ist unhistorisch als regelmaessig beobachtbare Erscheinung der Natur, wird aber in hohem Grade historisch wenn der Wasserstrahl gerade die Flamme loescht welche im Begriff ist mein Wohnhaus zu verzehren. [Es waere dienlich einen auch nur unvollstaendigen Katalog der Vorstellungen und Vorstellungsarten aufzustellen mit dem Vorsatz bei jeder die Geschichtlichkeit oder Ungeschichtlichkeit festzustellen.] Am unbefangensten bin ich essentiell unsichtbare Vorstellungen (genau genommen auesserlich nicht wahrnehmbare Vorstellungen) als unhistorisch zu klassifizieren. (Der Fall Roms gehoert nicht in die Kategorie der aeusserlich nicht wahrnehmbaren Vorstellungen, denn obgleich jetzt nicht mehr wahrnehmbar, so war der Fall Roms doch dem zeitgenoessischen Betrachter in hohem Masse aeusserlich wahrnehmbar.) Bei aeusserlich nicht wahrnehmbaren Vorstellungen, denke ich zum Beispiel an die Molekular und Atomtheorien der modernen Chemie und Physik welche unhistorische Vorstellungen hervorrufen, von denen man meint dass sie dem Wesen der Natur entsprechen und demgemaess ewig wiederkehrend zu reproduzieren sind. * * * * *

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