20010807.00
Die Wurzel, die arche, aller Betrachtungen ueber das
Denken ist nicht die Metaphysik als die Wissenschaft vom
Letzten und Hoechsten, ist nicht die Physik als Wissenschaft
vom Materiellen, ist auch nicht die Psychologie als Wis-
senschaft vom Denkenden, weil eine jede dieser Wis-
senschaften das Denken schon voraussetzt. Die Welt wird
mittels des Denkens begriffen. Das Denken aber muss sich
selbst erklaeren. Thought must explain itself, must extract
itself from ignorance by its own bootstraps. Die Wurzel
aller Betrachtungen ueber das Denken ist die Logik; denn die
Logik ist die Wissenschaft vom Denken selbst.
Nun gibt es in der Ueberlieferung zwei Arten der Logik,
die klassische, die sogenannte aristotelische Logik, und die
neue, moderne symbolische oder mathematische Logik.
Die aristotelische Logik ist analytisch, insofern sie
ihre Regeln aus dem Sinn von Worten ableitet, von Worten
welche sich im Laufe der Jahre oder Jahrhunderte im
Sprachgebrauch als sinnvoll und bezeichnend bewaehrt haben.
Dementsprechend ist die aristotelische Logik ein Distillat
der sprachlichen Ueberlieferung, und diese sprachliche Ue-
berlieferung ist wiederum das Ergebnis, der Ausdruck nicht
nur des mitteilbaren und mitgeteilten menschlichen Erlebens,
(of communicable and communicated human experience) sondern
auch des Geistes, der Gehirnfunktionen, wenn man so will,
mittels derer das Erleben und besonders dessen Mitteilung
statt finden.
Die mathematische, symbolische Logik aber ist syn-
thetisch, insofern sie ihre Saetze aus der Zusammensetzung,
Verbindung, Verschachtelung einer beschraenkten Zahl von Be-
griffen, bezw. Ausdruecken konstruiert, wie etwa die
Boolschen Primitiven: ja, nein, und, oder, der Klassenbe-
griff und der Begriff der Mitgliedschaft. Aus diesen primi-
tiven Ausdruecken erbaut die mathematische Logik mittels
einer kryptoexperimentellen Methodik ein verwickeltes (kom-
pliziertes) Gedankengebaeude dessen labyrinthische
Verbindungswege nur dem Adepten zugaenglich sind. So beruht
die Bedeutung dieser Kunst in ihrer Exclusivitaet, in der
Tatsache, dass nur wenige vorgeben koennen sie zu begreifen,
sie zu verstehen. Die Methodik des Ausbaus ist experi-
mentell, insofern als die Gueltigkeit der Verbindungen und
Verschachtelungen in denen sie sich ergeht, nicht prospek-
tiv, nicht im voraus zu bestimmen ist, sondern sich in jedem
einzelnen Falle erst beweisen muss: sich beweisen erstens
durch ihre Ueberzeugungskraft im Gemuet des einzelnen
Forschers, und zweitens sich beweisen durch ihre Annehm-
barkeit in der auserwaehlten exklusiven Gesellschaft der
Kenner, der Wissenden, eine Annehmbarkeit welche nicht nur
von der Ueberzeugungskraft (persuasiveness) der Darstellung
sondern auch von der Autoritaet des Darstellers abhaengt.
So werden des Kaisers unsichtbare Gewaender gewoben.
Hinzukommend diesen beiden Arten der Logik (in addition
to these two types of logic) moechte ich nun eine dritte
Wissenschaft vom Denken vorschlagen, eine dritte Wis-
senschaft welche unterschiedlich von den beiden angefuehrten
Systemen der Logik nicht eine statische Darstellung des
Gedankenstoffes anstrebt, weder, wie die aristotelische
Logik, mittels einer analytischen Methode den Begriffsinhalt
der Sprache destilliert, noch, wie die symbolische Logik,
mittels einer synthetischen Methode den potentiellen Bedeu-
tungsgehalt primitiver Audruecke in ein fast undurch-
dringliches Knaeul von Gedankenfaeden ausspinnt.
Die dritte Wissenschaft des Denkens welche ich
vorschlage, ist zugleich empirisch und dynamisch. Empirisch
ist diese dritte Wissenschaft insofern sie das Denken und
seine Ergebnisse, die Gedanken, ohne diese zu zergliedern
und ohne diese zu verbinden, hinnimmt, auffasst, und wider-
spiegelt, so wie dieses Denken und diese Gedanken in der
Geisteswelt erscheinen. Dynamisch ist diese dritte Wis-
senschaft insofern als sie die Widersprueche und Unschlues-
sigkeiten nicht zu beseitigen, die Unbestimmtheiten des
Denkens nicht zu befestigen sucht, sondern insofern sie
diese Widersprueche und Unschluessigkeiten, diese Unbes-
timmtheiten des Denkens als Ausdruck eines Werdens und
Schwindens, eines Kommens und Gehens, als Ausdruck von Ebbe
und Flut erklaert; wo der Fehler durch den Gegenfehler
aufgehoben, und die eine Unzulaenglichkeit durch eine zweite
neutralisiert wird. In ihrer Unvollkommenheit erscheinen
die Vorgaenge (processes) des Denkens klarer: wenn, dialek-
tisch dargestellt, nicht nur die These und die Antithese in
ihrer Fehlerhaftigkeit, in ihrer Falschheit erscheinen, son-
dern auch die Synthese welche beide vereinigt als unbere-
inigt von den Fehlerhaftigkeiten der These und Antithese
erkannt wird.
Diese dritte Wissenschaft verspricht keine begriffliche
Wahrheit, und ihre Wahrheit besteht darin, dass sie keine
Wahrheit verspricht. Ihr Wert besteht darin, dass sie das
Denken als Naturgeschehen zugaenglich macht, ein
Naturgeschehen von unbegreiflicher Komplexitaet, vergleich-
bar mit dem Sehen oder Hoeren. Sie macht das Denken zu-
gaenglich das sich im Gemuet des Einzelnen als wachsende und
schwindende (waxing and waning) geistige Bewegung regt. Sie
macht das Denken zugaenglich das sich in der Geistes-
geschichte spiegelt, als fehlerhafte Gedankengebilde, halb-
oder miss- oder unverstanden, welche bald einander bestaeti-
gen und bald einander widerlegen. Zu einer Wahrheit als
einem eindeutigen (dogmatischen) Beschluss beansprucht sie
nicht zu gereichen, und in dieser ihrer Anspruchslosigkeit
ist ihre Wahrheit.
* * * * *
Zurueck : Back
Weiter : Next
Index 2001
Website Index