20010819.00
Ich bin es gewohnt in den verschiedensten Buechern zu
lesen. Gestern war es Hegels Phaenomenologie des Geistes.
Es ueberrascht, es verwundert mich nicht, auf Worte, Saetze,
Abschnitte, gar ganze Kapitel zu stossen, von welchen ich
urteilen muss, dass sie entweder Unsinn sind, oder dass ich
ihren Sinn nicht verstehe. Unter Umstaenden ist dies
Nichtverstehen, oder vielmehr das Verstehen des
Nichtverstehen bedeutsamer als das Verstehen des
Nochnichtverstandenen. Auch waere es von grossem Wert den
Vorgang zu begreifen, wie sich im Laufe der Erlernens das
Nochnichtverstandene in Verstandenes verwandelt.
Trotzdem war ich im allgemeinen bisher jedes Mal so ich
auf Unverstandenes stiess, bestrebt, es mir verstaendlich,
begreifbar zu machen; es in den Bau der eigenen Gedankenwelt
einzuverleiben. Dieses Mal aber, als ich gewahr wurde, wie
befremdend ich Hegels Phaenomenologie des Geistes empfand,
wie verwirrend mich diese Gedankenwege anmuteten, und
wieviel Zeit und Kraft es kosten wuerde mich auf ihnen zu
orientieren; und als ich zugleich ahnte, dass die so
verwickelten Hegelschen Schemen sich mir zuletzt als ein
grosses Gedankengedicht entpuppen wuerden, da schien es mir,
vorlaeufig jedenfalls, wichtiger mein Nichtverstehen zu
begreifen als jenes schwerverstaendliche Buch.
Das Paradigma, das Musterbeispiel des Verstehens - und
also auch des Nichtverstehens ist die Sprache, die eigene
und die fremde. Die eigene Sprache versteht man immer; denn
jedes Wort, jeden Satz den man ausspricht, begleitet das
unmittelbare Bewusstsein dessen was man damit meint,
zugestanden, dass es manchmal sehr wenig oder garnichts ist.
Die Bedeutung, gross oder gering, wie es nun einmal sein
mag, ist der eigenen Sprache unabtrennbar beigefuegt. Die
voellig fremde Sprache, andererseits, versteht man anfangs
ueberhaupt nicht; denn wo die Sprache gaenzlich fremd ist,
weiss man bei keinem Satz, bei keinem Wort das man hoert
auch nur ungefaehr, was der Sprecher damit meint, oder was
man sich darunter vorstellen soll.
Am einfachsten ist es in einer fremden Sprache die
Namen der Dinge zu erlernen. Denn der Gegenstand laesst
sich zeigen. Er ist begrenzt und wird mit einem eindeutigen
Namen benannt. Man setzt also im allgemeinen voraus, dass
das Erlernen einer neuen Sprache, dass das Erlernen neuer
Denkweisen und Gedanken, neuer Begriffe, nicht weniger
eindeutig waere als das Erlernen zum Beispiel was der Namen
Baum, oder Haus, in der fremden Sprache bedeutet. Dies ist
aber nicht der Fall, denn erstens sind bei genauerer
Betrachtung auch die einfachsten Gegenstaende niemals so
eindeutig, so streng begrenzt wie die Namen die ihnen
zugelegt werden. Die Grenzen der benannten Gegenstaende
sind nur ungefaehr, und die Zusammenhaenge auch
koerperlicher Dinge, ihre Beruehrungspunkte, Linien und
Flaechen, sind schwierig aufzufassen. Am Schwierigsten ist
es Zusammenhaenge von abstrakten Begriffen zu konstatieren,
wo die Zusammenhaenge am ungenausten sind, und die Bedeutung
am nebligsten, wo kein unabhaengiges Verhaeltnis zum Erleben
zu bestehen scheint. Bei abstrakten Vorstellungen ist keine
inbegriffene Vorlage zum Verstaendnis gegeben, und der Sinn
der sprachlichen Ausdruecke muss in ihnen selbst gefunden
werden.
Stets vorauszusetzen ist dass die Worte aus denen der
in seinem Zusammenhang unverstaendliche Text besteht,
einzeln und abgetrennt einen gewissen Sinn haben;
anderweitig bedeuteten sie nichts mehr als die Buchstaben
des Alphabets denen der Mathematiker in ganz willkuerlicher
Weise einen bestimmten Wert zuzuschreiben vermag. Welche
fragmentarische Bedeutung, schwerwiegend oder gering, die
Worte und Saetze eines unverstandenen Kapitels auch immer
haben, wo der Bezug auf vergegenwaertigendes Erleben
ausfaellt, da schafft das Gemuet dem Unverstandenen einen
synthetischen Sinn, eine synthetische Bedeutung, eine
Bedeutung welche der Eigenart des Gemuetes, oder wenn man
will, des geistigen Erlebens Ausdruck gibt. Es liegt im
Wesen der Sache, dass es dahingestellt bleiben muss, und
dass es tatsaechlich unmoeglich ist festzustellen, in
welchem Masse ein solcher synthetischer Sinn welche der eine
Mensch sich erarbeitet, mit dem entsprechenden synthetischen
Sinn welchen ein zweiter oder ein dritter Leser des gleichen
Stoffes ueber ihn entwickelt, uebereinstimmt. Denn wo die
Anhaltspunkte zu einer Deutung ausfallen, da fehlen zugleich
die Anhaltspunkte zu einem Vergleich; und somit alle
Kriterien zu einem Urteil ueber die Gueltigkeit der
Interpretation. Auch ist es durchaus denkbar, dass die
unter diesen Umstaenden herausgearbeitete (elaborierte)
Deutung sehr weit abliegt von den Zwecken des Verfassers,
und ebenso weit entfernt ist von den Deutungen der
Mitschueler oder Kollegen. Man male sich dementsprechend
ein Spektrum von Deutungen aus welche sich wegen der
Unbestimmtheit ihres Gegenstandes nicht miteinander
vereinbaren lassen, und welche ihr Bestehen nirgendwo
ausweisen koennen als in dem Gedankenbereich des Denkenden.
Es ist die synthetisierende Begabung des Gemuets des
Menschen, welche ihn befaehigt aus Begriffen mit nur
beschraenkter empirischer Bedeutung ein Gedankengewebe von
ausserordentlicher Dichte und von unvorhersehbarem Ausmass
zu verfertigen (entwickeln). Die Auswirkungen dieser
Taetigkeit sind unterschiedlich. Manchmal sind sie von
erheblichen praktischen Folgen, manchmal wirken sie erbauend
oder beruhigend auf das Gemuet welchem sie entspringen,
manchmal foerdern oder befestigen sie den gesellschaftlichen
Vorrang des Denkenden. Und manchmal scheinen sie belanglos.
Diese Deutung bezeugt, dass auch ich auf meine Weise,
von aussen sozusagen, die Hegelschen Schriften verstanden
habe, naemlich als ein Gedankengewebe dem die Bedeutung, der
eindeutige Sinn, vom Leser erst aufoktroyiert werden muss;
und dass es die Entschiedenheit, und vielleicht auch die
Willkuer (arbitrariness) des Lesers ist und eine
verhaeltnissmaessige Unempfindlichkeit gegen die
Zweideutigkeiten und Unbestimmtheiten seiner Auffassungen
welche das "Verstaendnis" einer Philosophie wie der
Hegelschen ueberhaupt erst ermoeglicht. So habe ich nun
entschieden, dass ich vorerst jedenfalls, meine Zeit und
Kraft auf Bemuehungen anders als die Assimilation, als das
Verstehen der Hegelschen Schriften verausgaben werde.
* * * * *
Zurueck : Back
Weiter : Next
Index 2001
Website Index