20020209.02

     Man fragt nach Kierkegaards Stellung gegenueber dem Tode.
Da man die Frage um den Tod nicht zu beantworten weiss,
uebersetzt man sie in die Frage um das Toeten.  Denn betreffs des
Toetens weiss unsere Regierung genau bescheid.  Toeten im kleinen
wie im grossen ist unsere Spezialitaet.

     Kierkegaard aeussert sich ueber den Tod an den
verschiedensten Stellen seines Schriftwerks.  Am
Bemerkenswertesten in der Krankheit zum Tode bezeichnet er die
koerperliche Krankheit als den Weg zu etwas anderem als dem Tode;
stattdessen stellt er die Verzweiflung als die tatsaechliche
Krankheit zum Tode dar. Somit eroeffnet sich eine Reihe neuer
Fragen: Wie sollen wir den Tod bedenken, beurteilen, wenn er uns
natuerlicher Weise erscheint?  Was versteht er unter
Verzweiflung, von welcher Kierkegaard behauptet, dass sie
toedlich sei?

     Die Gleichsetzung der 11. September Katastrophe mit
Kierkegaards Betrachtung vom Tode besagt wenig oder nichts ueber
Kierkegaard, besagt aber viel ueber die seelische Haltung
desjenigen, der den Vergleich aufstellt.

     Kierkegaards Deutung der Zerstoerung menschlicher Bauten
steht in jener von mir so bewunderten Predigt am Ende von
Entweder/Oder deren Titel schon darauf hinweist, dass wir gegen
Gott stets im Unrecht sind. Der Augangspunkt ist auch hier die
Betrachtung, dass die Stadt zwar wegen ihrer Suendhaftigkeit
zerstoert wird, dass aber nicht alle Einwohner der Stadt die
gleiche Suendenschuld tragen, Die Forderung an Gott welche
Abraham in bezug auf Sodom und Gomorrha stellte, dass die
Unschuldigen mit den Schuldigen verderben muessen, wird hier
wiederholt; und die Antwort Kierkegaards ist, dass wir ja alle,
Gott gegenueber im Unrecht sind, und dass dies Unrecht in welchem
wir uns alle befinden, wenn nicht die Begruendung, so aber
dennoch die Rechtfertigung fuer die allgemeine Zerstoerung
liefert.

     Die Zerstoerung der Stadt, manchmal durch Feuersbrunst,
Ueberschwemmung oder Erdbeben, meist aber durch Feindes Hand,
gehoert zu den urspruenglichsten aller menschlichen Erlebnisse,
wenngleich das Bewusstsein unserer Zeit zu schwach ist, es im
Gedaechtnis zu halten.  Die Zerstoerung der Staedte der Incas
durch die spanischen Conquistadores hat uns nie bekuemmert. Die
Zerstoerung Atlanta's im Buergerkrieg, die Feuersbrunst von
Chicago, das Erbeben in San Francisco sind saemtlich laengst
vergessen. Die von uns zerstoerten Staedte, Hiroshima, Nagasacki,
Dresden, Leipzig, Hamburg, Berlin, Koeln, Wuerzburg, Muenchen,
Braunschweig, das war alles in Ordnung, weil "wir" im Recht
waren.

     Was am 11. September in New York geschah, ist im Verhaeltnis
zu der Bevoelkerungszahl des ganzen Landes zu bewerten.  Ein Land
von zwei hunder Millionen Menschen, mit einer durchschnittlichen
Lebenserwartung von sagen wir fuendundachtzig Jahren, hat zu
erwarten das jedes Jahr ein fuenfundachtzigstel der Bevoelkerung
stirbt, ungefaehr 2,350,000 Menschen; 6446 pro Tag. Mit anderen
Worten, die dreitausend Tote infolge der Anschlaege vom 11.
September betragen 0.00125 (oder 0.125 prozent) der jaehrlichen
Todesfaelle des Landes. Wieviele Menschen in Afghanistan unserer
Rachesucht zum Opfer fielen ist unbekannt; sie wurden nicht
gezaehlt.

     Die Bedeutung der Zerstoerung der Stadt geht ueber die
Bedeutung der Todesopfer hinaus.  Denn die Zerstoerung der Stadt
ist sinnbildlich fuer die Zerstoerung der Gesellschaft Seit
biblischen Zeiten, wird die Zerstoerung der Gesellschaft als
Strafe, als Vergeltung der Suendhaftigkeit ihrer Mitglieder
gedeutet.

     Schwere und unloesbare ethische Fragen ergeben sich aus
dieser Gleichung.  Welches ist das Verhaeltnis des Einzelnen zur
Gesellschaft, erstens in bezug auf das Vergehen, und zweitens in
bezug auf die Strafe?  Erstens die Frage um die Suendhaftigkeit
des Einzelnen in Beziehung zur Suendhaftigkeit der Gesellschaft,
zweitens die Frage um die Beziehung der Zerstoerung des Einzelnen
in Beziehung zu der Zerstoerung der Gesellschaft.

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