20020302.02
Liebe Gertraud, lieber Bernd,
Heute morgen brachte die Post Gertrauds Postkartenbrief mit
den Bildern von Euern Bergen und Euerm Haus dort inmitten der
wunderbaren Landschaft. Habt vielen Dank.
Soweit war ich gestern gekommen: dann versagten sich mir die
Worte, nicht weil ich nichts zu berichten haette, sondern weil es
sich mir stylistisch und inhaltlich unbereinigt in einem
befremdlichen Durcheinander aufdraengte, so dass wenn ich mit dem
Schreiben fortgefahren waere, ich mich meiner Ausfuehrungen und
meiner selbst haette schaemen muessen. Meine Enkeltochter Rebekah
war gekommen um mit ihrer Grossmutter eine Schulaufgabe zu
besprechen. Ich trat hinzu und ueberhoerte ihren Gruss. "I
thought you were a ghost," sagte sie, "because you didn't answer
when I said 'Hello'." Die ist ein klueges liebenswuerdiges
Maedchen, das manches im Kopfe hat, darunter die Entraetselung
ihres Grossvaters zu dem Unwichtigsten gehoert.
Ich ging dann wieder nach oben, in mein Arbeitszimmer im
dritten Stock, mit dem erbaulichen Ausblick durch kahle Baueme
auf zahllose benachbarte Daecher, ein arroganter Ausblick,
wohlbemerkt, von oben nach unten, einen Ausblick den ich Euch
schon beschrieben habe, welcher gewisslich dem Vergleich mit
Euren Bergen nicht standhalten kann. Ich kehrte zu meiner
Lektuere zurueck. Zur Zeit ist es wieder Kierkegaard, "Der
Begriff Angst". Ich benutze eine deutsche Uebersetzung und
vergleiche diese mit dem daenischen Urtext, welchen ich im
Computer gespeichert habe. Beim Lesen wurde mir klar, dass es
eine Art Gesellschaftsangst gewesen sein muss, welche den
Uebersetzer, Emanuel Hirsch, seiner Zeit bewogen hatte sich der
SS und den sogenannten Deutschen Christen anzuschliessen. Es war
mir eine Raetsel, wie dieser gelehrte offensichtlich hoch
intelligente und empfindsame Mann sich mit dieser entsetzlichen
Tyrannei hatte verschwaegern koennen. Aber die Angst ist stark,
und bewirkt vieles. Bemerkenswert scheint es mir uebrigens dass
Mut, Tapferkeit, Courage, von Kierkegaard mit keinem Worte
erwaehnt werden, obgleich sie im Leben seines bewunderten
Sokrates eine so bedeutende Rolle spielen.
Ich stimme mit Kierkegaard ueberein, dass die Angst der
Ausdruck einer eingeboreren, von allen Menschen ererbten,
schicksalshaften Eigenschaft ist, welche mit dem Ausdruck
"Erbsuende" nicht unpassender bezeichnet wird als mit manchem
anderen. Doch scheint es mir dass Angst durch die verschiedensten
Anlaesse ausgeloest wird, nicht lediglich durch die scheinbare
Unvereinbarkeit von Koerper und Geist. Mich beeindruckt viel mehr
die Angst welche sich aus der Unvereinbarkeit des Einzelnen, wie
er von Kierkegaard gepriesen wurde, mit der Gesellschaft ergibt,
mit der auch Kierkegaard nicht fertig wurde, wo der Einzelne doch
von der Gesellschaft so unverkennbar abhaenging ist, und als
Einzelner doch mit der Gesellschaft nichts anzufangen vermag, und
sie nichts mit ihm. Um diesem Konflikt mit der Gesellschaft zu
entfliehen begibt sich der Mensch auf Wanderschaft. Ich erinnere
das tiefsinnige Gedicht (von Wilhelm Mueller) von Schubert in der
Winterreise vertont: "Was vermeid ich denn die Wege, wo die
andern Wanderer gehn, suche mir versteckte Stege durch
verschneite Felsenhoehn. Habe ja doch nichts begangen, dass ich
Menschen sollte scheun. Welch ein toerichtes Verlangen treibt
mich in die Wuestenein." Auch ich sehne mich nach Wuesteneien,
entdecke sie aber mehr und mehr im Inneren.
Soweit bin ich heute morgen gekommen. Morgens zu schreiben
ist mir zur Gewohnheit geworden. Wenn ich erwache gehen mir die
verschiedensten Gedanken durch den Sinn, manchmal die alten,
abgedroschenen, oft aber ganz unerwartet, neue, welche sich dann
beim Duschen sichten und ordnen. Noch im Morgenrock, vor dem
Fruehstueck setze ich mich an den Computer und entleere,
sozusagen, mein Gemuet, verantwortungslos insofern als ich im
Allgemeinen einen moeglichen Leser ueberhaupt nicht in Betracht
ziehe. Wenn es mir dann Tage oder Monate spaeter anschaue, bin
ich oft, weil das Gedachtnis nicht mehr so straff ist, von dem
was ich einst schrieb, ueberrascht, und nicht selten enttaeuscht.
In gegebenem Falle aber werdet Ihr es sein, die mein Schreiben
ueberrascht, enttaeuscht, vielleicht sogar veraergert. Am Besten
waere es, ihr verstuendet es als einen Audruck von Hilflosigkeit.
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