20020304.00
"Das Hoechste waere zu begreifen, dass alles Faktische schon
Theorie ist." Nimmt man dies Goethewort ernst, so wird klar,
dass die Fahndung des Meineids selbst eine Unwahrheit ist,
insofern als jede Aussage, wie "faktisch" auch immer sie
erscheinen mag, ein Ausdruck der Theorie, der Anschauung des
Angeklagten; und dass man ihn Verklagt nicht wegen der Unwahrheit
seiner Aussage, denn diese ist hoechstens (bestenfalls) der
Ausdruck, die Offenbarung seines Wesens, dessen was er ist. Und
es wird nicht die Aussage, sondern das Wesen wird bestraft. Und
das Vergehen ist nicht die Luege, denn das Luegen liegt ja im
Wesen der Gesellschaft, sondern das Vergehen ist das Anderssein,
das sich nicht einfuegen, die Tarnung der Gemeinschaft
abzulehnen, oder jedenfalls nicht annehmen zu koennen.
Wie mannigfaltig sind nicht die Erscheinungen dieses
Tarnungsbeduerfnisses, dieses Tarnungszwanges: In der Sprache,
die Orthographie, die Grammatik, welche der Einzelne peinlich zu
beachten genoetigt wird, um nicht sein Anderssein zu verraten.
Die Sprache selbst ist offensichtlich sinnvoll nur insofern die
Mitteilenden einander gleich sind. Die Sorge um die koerperliche
Erscheinung des Menschen, die Kosmetik, die plastische Chirurgie,
bestaetigen den Assimilierungsdrang. Jeder will in seiner
Erscheinung ein klassisches Ideal der Vollkommenheit, der
Schoenheit widerspiegeln. Wo Geist und Koerper nicht genuegend
sind um den Menschen in die Gesellschaft einzufuegen, muss
Kleidung, Frisur, Kosmetik, Mode herhalten. So gewaltig ist der
Druck unter welchem sich der Einzelne befindet, so auszuschauen
wie die anderen.
Fuer das Anderssein aber wird man bestraft. Ausdruecklich
wenn des Menschen Persoenlichkeit (vermeintlich die Handlung,
tatsaechlich aber die Persoenlichkeit) vor Gericht gestellt,
beurteilt und abgeurteilt wird. Inbegriffen in der Ehewahl, in
der Berufswahl, in der Wahl eines Freundeskreises.
Man sieht wie erklaerlich die Xenophobie, der Fremdenhass,
der Antisemitismus, die Verachtung der farbigen Rassen, und man
erkennt zugleich, dass es der Gesellschaft, exklusiv wie sie auch
immer sein mag, dennoch ein Beduerfnis ist, eine Notwendigkeit,
sich zu erweitern, und Elemente, Bevoelkerungsgruppen welche sie
einerseits ablehnt ausschliesst und bestraft, andererseits in
sich aufzunehmen.
Vor allem aber bewirkt der Einbezug fremder
Gesellschaftsgruppen in eine Gesellschaft wesentlich erweiterte
Freiheit, denn die Anwesenheit von Mitgliedern unterschiedlicher
Denkungsweisen vergroessert den Bereich dessen das als
gesellschaftlich annehmbar erkannt wird.
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