20020407.00

     Die Philosophie des vor-reformatorischen Christentums ist
durch die scheinbare Vergegenstaendlichung der Subjektivitaet in
der Vorstellung der Seele bezeichnet. Die Seele wurde zu einer
den koerperlichen Dingen epistemologisch gleichgestellten Sache,
und wurde von der Gesellschaft als erkennbar und beurteilbar
geschaetzt. Die protestantische Reformation bestimmte den dem
Individuum zugaenglichen biblischen Text als massgebend, und
verliess sich auf den individuellen Glauben als seligmachende
Einstellung des Einzelnen. Die Kartesische Reduktion des Wissens
auf das gegenwaertige Bewusstsein besagte eine entsprechende
Subjektivierung des Seelenbegriffes.

     Die englischen Philosophen, Locke und Hume, so wie ich sie
verstehe, waren gegen die Subjektivitaet voellig unempfindlich.
Fuer sie wurde nicht die unendlich interessierte Leidenschaft des
Individuums sondern die allgemeine Ueberzeugung der Gesellschaft,
das Common Sense zum Kriterion nicht nur epistemologischer
sondern auch spiritueller Wirklichkeit. So voellig waeren sie in
den Geist der Gesellschaft eingefuegt.

     Die deutschen idealistischen Philosophen, Kant, Fichte,
Hegel, Schelling Schleiermacher und Schopenhauer beanspruchten
jeder in seiner Weise das Individualitaetsparadox in einem Wirbel
undurchsichtlicher Begriffe zu loesen; aber es ist ihnen wohl
doch nicht gelungen, ausser insofern als die zwangsmaessige
Einuebung in und Assimilation von ihren Lehren, der
Subjektivitaet, der Inwendigkeit des mit den unmoeglichen
Begriffen Ringenden, einen geistig-seelisch Raum zur Verfuegung
stellte in welchem sie zu ringen und zu leiden vermochte, um am
Ende, erschoepft, sich als dessen Herrscher des durchfochtenen
Raumes zu waehnen.

     Es scheint mir kein Grund zu erwarten, dass man es
heutzutage mit neuen Ueberlegungen fertig bringen moechte das
Subjektivitaets-Seelen Problem zu loesen, ausser in sofern als
eine klarere eindeutigere Darstellung des Widerspruchs einen
Anhaltspunkt bieten koennte, an welchem der Einzelne sich zu
orientieren vermag, oder aber die entferntere und doch nie ganz
auszuschliessende Moeglichkeit, dass die Einsichten in das
Paradox selbst dazu dienen moechten das Verstaendnis (den Geist,
das Gemuet, das Gehirn) zu verwandeln in einem Sinne das es
hinfort fuer den Widerspruch ein mehr genuegendes Verstaendnis
aufzubringen in der Lage waere.

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     Diese Einsicht, dass Geist, Gemuet, Gehirn, dass das Wesen
des Menschen durch die Aussenwelt beeinflusst, gestaltet,
verwandelt wird, die Ausdehnung (expansion) des anopsia Amblyopie
Phaenomens auf das gesammte geistige Dasein des Menschen, dass
sich durch diese Anpassung eine Korrespondenz von Geist und Welt
entwickelt; dass es nicht vorbereitete Speicher im Gemuet sind
welche das Lernen auffuellt, sondern dass das Lernen diese
Speicher ueberhaupt erst gestaltet: diese Einsichten betrachte
ich als unter den bedeutendsten Ergebnissen meines Denkens.

     Das Problem, die Schwierigkeit, die Einwaende gegen diese
Einsicht moechten sein, einerseits dass die Anpassung an die
Natur, an das Sein, an die Wirklichkeit unbemerkt und unbemerkbar
ist; ein Vorgang der sich lediglich nur postulieren laesst,
demonstrieren aber keineswegs,  um von beweisen ganz zu
schweigen. Der andere, gewissermassen entgegengesetzte Einwand
gegen meine Einsicht, ist dass ihre vermeinte Geringfuegigkeit,
insofern als sie nichts als das ohnehin schon offensichtliche
behauptet. Zum Beispiel: ich habe Hoelderlins Ode Patmos nie
gelesen. Nun werde ich mit diesem grossen Gedicht bekannt, lerne
es sogar auswendig.  Ist es eine tiefe philosophische Einsicht
dass ich der ich nun Hoelderlins Ode aus dem Stegreif aufsagen
kann, ueber ein anderes Gemuet verfuege, dass ich tatsaechlich
mit dem Lernen ein anderer Mensch geworden bin als der ich war,
zu der Zeit da ich noch nie von dieser Ode gehoert hatte.  Man
mag sich hier der ruden Vorstellung bedienen, welche behauptet
dass jeder Gedanke und jedes Gefuehl Ausdruck einer biochemischen
oder biophysischen Gehirnbeschaffenheit ist; dem gemaess das
Auswendiglernen der Hoelderlin Ode mich nicht nur geistig sondern
geradezu koerperlich zu einem anderen Menschen gemacht hat als
dem der ich war.  Dabei ist es keineswegs notwendig, dass alle
derartigen Veraenderungen bewusst sein sollten: dass alle
derartigen Veraenderungen denen das Gemuet, denen der Geist sich
unterzieht unbedingt bewusst waeren.  im Gegenteil: die grosse
Ueberzahl dergleichen Veraenderungen muss unbewusst geschehen.
Warum sollten Einfluesse der Umwelt welche nicht ausdruecklich
vom Bewusstsein bestaetigt und genehmigt werden nicht auch das
Gemuet, den Geist, das Gehirn verwandeln?  Ist nicht dies was dem
Kinde geschieht wenn es seine Muttersprache lernt?

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