20020531.00

     Betrachtet man Leibniz als eine Uebergangserscheinung von
mittelalterlichem zu neuzeitlichem Denken so beeindruckt (vor
allem) die Verschiedenheit des Denkens zwischen den zwei
Zeitaltern.  Wir sind naemlich geneigt, es ist ein grundlegender
Zug unseres Denkens, spezifisch unseres Sprachvermoegens,
anzunehmen, dass wir uns gegenseitig verstuenden, anzunehmen,
dass ich den fremden Menschen der mir gegenueber steht, der zu
mir spricht, mittels meines Verstaendnisses seiner Aussagen zu
begreifen vermoechte.  Es ist ein Gemeinplatz, obgleich in der
Praxis geleugnet, dass kein Mensch einen anderen Menschen
wirklich verseht, dass kein Mensch von einem anderen wirklich
verstanden wird, d.h., dass die Innerlichkeit eines Menschen
seinem Naechsten unerreichbar und unbegreifbar ist.  Hier aber
wird dieser Gemeinplatz verwirklicht, wird realisiert; denn mit
der Unmoeglichkeit die leibnizschen Gedanken nachzudenken wird
gezeigt dass jedenfalls das philosophische Denken nicht so
einfach uebertragbar ist, dass es mit der Uebertragbarkeit
(transmissibility) des philosophischen Denkens seine vielleicht
unueberwindliche Problematik hat.  Und diese Tatsache deutet
darauf hin, dass es moeglicherweise die Eigenart des
philosophischen Denkens ist subjektiv, innerlich zu sein; und
dass die ganze Buerde der Philosophie eben in der Aufgabe besteht
inwendiges Erleben mitzuteilen.  Diese Vermutung wuerde meiner
Auffassung entsprechen, dass die Dichtung als die eigentliche
Mitteilung des Subjektiven, die unabkoemmliche unvermeidlche
Ausdrucksweise der Philosophie ist.

     Unter dieser Veraussetzung erhalten auch die Forderungen
fremdes Denken zu begreifen ein neues Gepraege: denn die Aufgabe
ist nun nichtmehr die Bestimmung oder Beschreibung einer
gemeinsamen Wirklichkeit: die Aufgabe ist das Begreifen einer
individuellen Gesinnung welche moeglicherweise als Beschreibung
einer gemeinsamen objektiven Welt masquerierte. Ein solches
Begreifen waere in mancher Hinsicht schwieriger, wenn nicht gar
unmoeglich; es sei denn dass das Begreifen darin bestuende sich
selbst in die Gemuetsverfassung des anderen einzuueben, und in
diesem Begreifen derartig proficient zu werden, dass man sich ihm
angleicht, dass man sich assimilierte, dass man wuerde wie er,
dass man er wuerde.  Erst dann wird man das Denken eines anderen
wirklich begreifen.

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