20020618.00

     Diltheys Antrittsvorlesung in Basel (1867) bestaetigt die
Annahme meiner Jugend, dass die deutsche idealistische
Philosophie, Fichte, Hegel, Schelling ein Ausdruck der
sogenannten deutsche Klassik ist; dass die Denker die
Voraussetzungen und Schlussfolgerungen der Dichter zu Ende
denken; dass in mancher Hinsicht die Dichtung und die Philosophie
untrennbar von einander sind; dass wer die Dichtung zu deuten
beansprucht auch die Philosophie zu deuten genoetigt ist; dass
die mutmasslichen Trennung von Dichtung und Denken intellektuelle
Unehrlichkeit oder zum mindesten Schalheit besagt. Man vermag
Hegels Bedeutung aus dem Geistesleben Deutschlands um die Wende
des achtzehnten Jahrhunderts so wenig ausschalten, wie man Walt
Disneys Bedeutung aus dem Geistesleben der Vereinigten Staaten um
die Wende des zwanzigsten zu ignorieren vermag.

     Der Fehler in Hegels Denken war die unkritische
Verallgemeinerung des Geistes; und diese unkritische
Verallgemeinerung hat sich auch in jenen philosophischen Schule
fortgesetzt die meinten Hegel widerlegt oder ueberwunden zu
haben. Der Marxismus ist nicht nur eine Umwandlung des hegelschen
Denkens, sondern eine Widerlegung nicht nur jenes Denkens,
sondern auch des eigenen.  Die Ansprueche der Wissenschaft auf
den Geist sind nicht mehr oder weniger berechtigt als die
Ansprueche der hegelschen Systematik, mit dem wesentlichen
Unterschied, dass Hegels Philosophie letzten Endes ein
literarisches Erzeugnis war, indessen die Wissenschaft ueber eine
allgemein empirische Grundlage verfuegt. Und die Mathematik als
die Symbolik der Wissenschaft ist eben gruendlicher und
zwingender denn die Symbolik der Logik, welche ein sprachliches,
ein literarisches Erzeugnis ist.

     Die hegelsche Philosophie besagt die aeusserste (ultimate)
Vergesellschaftung des individuellen Geistes.  Dieser hohe Grad
der Vergesellschaftung des Geistes war moeglich, auf Grund einer
kulturellen Gleichartigkeit in der Gesellschaft.  Mag sein auch,
dass es der Gehorsam der Deutschen ist, eine Neigung zur
Untertaenigkeit, das sich Einfuegen in die Gesellschaftsordnung,
welche einen Weltgeist glaubwuerdig machte.  Und doch ist es
Tatsache, dass der Geist in hohem Masse auch Geist des
Individuums ist; und dassdas Individuum sich in nur beschraenktem
Masse in die Gesellschaft einbeziehen laesst.  Die Aufgabe
erscheint dann als die Gesellschaftlichkeit und die
Individualitaet des Geistes mit einander zu vereinbaren und
gegeneinander abzustimmen: und betreffs dieser Aufgabe hat Hegel
versagt.

     Das prototypische Beispiel des Verhaeltnisses von
Gemeinsamkeit und Individualitaet ist die Sprache, welche
einerseits den tiefsten und innersten Gefuehlen und Gedanken des
Menschen Ausdruck gibt, welche aber andererseits sich in der
Gesellschaft entwickelt, und welche nur in der Gesellschaft
entstehen kann. So verbindet die Sprache den Einzelnen mit der
Gesellschaft: sie ist das Merkmal seiner Abhaengigkeit von ihr.
Der Mensch vermag den Ursprung und die Quelle seines Geistes
ebensowenig zu erreichen wie er es vermag sein Bewusstsein oder
seinen Koerper zu ergruenden.

     Der Ursprung des individuellen Geistes in der Gesellschaft
und dessen Abhaengigkeit von ihr bietet der Erkenntnis eine
unueberwindliche Schranke. Denn die Einfluesse aus der
Gesellschaft welche der Einzelne sich einzuverleiben vermag und
welche der Einzelne zum Ausdruck zu bringen vermag sind stark
begrenzt. Die Begrenzungen des Gesellschaftsverhaeltnisses
zusammen mit den Schranken der Sinneswahrnehmung und des
Denkvermoegens bieten die Basis des sokratischen bekenntnisses
nichts zu wissens als dass ich nichts weiss. Diese Begrenzungen
wahrzunehmen und sie bestaendig ins Gedaechtnis zurueckzurufen
ist die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Es ist bemerkenswert
in welchem Masse die Philosophie, besonders die "Philosophie des
Lebens", welche beansprucht dem Leben gerecht zu werden, gegen
diese Aufgabe verstoesst: denn der Anspruch die Welt und ihre
Vergangenheit zu begreifen, sei es die Welt der Natur oder die
Welt des Geistes, ist ein Anspruch im tiefsten Sinne zu erkennen,
zu wissen; dagegen das Einzige was zu erkennen, was man zu wissen
vermag, sein eigenes Bewusstsein, sein eigenes Nichtwissen ist.

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