20021006.00
Das taegliche Erleben gebiert nicht nur Wahrheiten sondern
auch Irrtuemer, Irrtuemer des Wissens und Irrtuemer des Urteils.
Meist sind die beiden vermengt.
In meinem Leben ist einer der folgenreichsten solcher
Irrtuemer, folgenreich bis zum Schicksalhaften, die
Ueberzeugung gewesen, dass es eine deutlich definierbare geistige
Ueberlieferung gebe, eine Tradition von unsagbarem Wert, die sich
von Homer und von dem Autor der Genesis hin zu den Duineser
Elegien erstreckt, und dass es demgemaess mir Gelegenheit und
Pflicht sei, mich an dieser Ueberlieferung nehmend und gebend,
geniessend und gestaltend, als Kenner und als Autor, zu
beteiligen.
Nun bin ich in der muehevollen Arbeit verstrickt, mich von
diesem Irrtum zu befreien und zu versuchen einen anderen Rahmen
fuer mein Leben zu entdecken, zu erfinden, zu entwerfen, zu
erfuellen und zu ertragen, so gut ich es kann.
Man mag es die Illusion des Humanismus nennen, von der ich
mich habe verleiten lassen; eine Religion welche seit meiner
Kindheit dem Leben Sinn und Ziel zu versprechen schien; eine
Religion auf den Glauben gegruendet, dass die Ueberlieferung mit
ethisch und aesthetisch objektiven Werten behaftet sein sollte,
und dass ihre Pflege, woertlich und bildlich, der wahre
Gottesdienst sei.
Irrtuemer des Urteils sind entsprechend schwierig, wenn
nicht unmoeglich, festzustellen; denn das Urteil ist seinem Wesen
nach willkuerlich, und wo es nur unabsehbare Folgen hat, an
nichts zu messen. Mit dem Wissen steht es anders; denn das
Wissen besteht aus einer Reihe von Vorstellungen, Vorstellungen
welche teils einander zu bekraeftigen (bestaetigen) und teils
einander zu widerlegen scheinen. Und es ist die Faehrte der
vergeblichen, getaeuschten Vorstellungen welche zur Einsicht der
Fehlerhaftigkeit des Wissens und des auf dieses Wissen
gegruendete Urteil weist.
Man verehrt die Ueberlieferung wie man die Familie verehrt,
die Eltern, von denen das Kind waehnt, dass sie vollkommen sein,
weil es sich selbst als vollkommen fuehlt, oder jedenfalls in
sich selbst die Anlagen zur Vollkommenheit zu spueren meint.
Hinterher, vielleicht sehr lange hinterher, nach mancher
Enttaeuschung und nach mancher Niederlage, praesentiert sich die
Einsicht, dass die vermeintliche Vollkommenheit der Familie, der
Eltern, doch eine Taeuschung war; und dass der Wahn etwas mehr
als nur ein sterblicher, mit Fehlern behafteter Mensch zu sein
ein unbeholfener Ausdruck des primitivsten Selbstbewusstseins
ist. Noch ist es unbestimmt, womit diese Illusion ersetzt werden
moechte.
Sofort aber draengt die Vermutung sich auf, dass die
Entdeckung dieses Irrtums keine zufaellige ist, die lediglich aus
der Ungereimtheit sich widersprechender Vorstellungen entspringt.
Vielmehr ist der deutliche Anlass zu dieser Entdeckung das
enttaeuschte Geltungsbeduerfnis welches zuletzt die Einsicht
nicht verdraengen kann, dass man selbst nichts geleistet hat,
oder jedenfalls, dass der Ruhm und die Ehre nach denen man
heimlich trachtete einem entgangen sind, und sich nun mit dem
Gedanken troestet, dass das Ziel nicht der Muehe wert, weil es
doch nur eine Fata Morgana war, genau was der aesopsche Fuchs von
den unerreichbaren Trauben beschloss.
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