20021006.01
Die Literatur (einschliesslich Philosophie) als Religion und
deren Studium als Gottesdienst zu bezeichnen ist keineswegs so
leichtfertig wie es laut des gewoehnlichen Sprachgebrauchs
erscheinen moechte. Die Bibel als heilige Schrift, das
Schriftstueck als Grundlage des religoesen Erlebens, die
juedische Tradition des Torah, die reformatorische Beharren auf
dem geschriebenen Wort Gottes; all diese Erwaegungen legen das
Schrifttum in die naechste Naehe, wenn nicht gar in den Kern des
religioesen Erlebens. Und dies nicht von ungefaehr, nicht durch
Zufall.
Man vergleiche die Wirkung des geschriebenen mit der Wirkung
des gesprochenen Wortes. Das gesprochene Wort wird in offener
Gesellschaft vernommen. Es bindet das Gemuet an die Mitmenschen
die es aussprechen. Das geschriebene Wort, hingegen, erfaehrt
der Mensch fuer sich; womoeglich in tiefster Einsamkeit. Die
Sprache der Schrift stellt eine Verbindung dar, zwischen der
bunten Vielfaeltigkeit des gesellschaftlichen Lebens, aus der die
Sprache entspringt, und der Abgeschlossenheit der Gefuehlswelt in
welcher der Mensch sich als Einzelner in aller Einsamkeit
begegnet.
Grundlage und Kern des religioesen Erlebnisses ist der
Begriff oder die Vorstellung, (ein Unterschied, wohlbemerkt,) von
Gott oder von der Gottheit oder vom Goettlichen. Schon die
Ausdrucksweise bekundet, dass wir nicht (genau) wissen wovon wir
reden. Oder dass das wovon wir reden nicht (voellig) bestimmt
ist.
An der Schwelle der religionsphilosophischen Ueberlegung ist
die Frage ob das Goettliche mehr ist als ein Begriff, ob also das
Goettliche an eine Vorstellung geknuepft ist, und wenn, ob diese
Vorstellung sich auf einen Gegenstand bezieht oder auf
nichtgegenstaendliches Erleben. Ich bediene mich des Ausdrucks
"Gegenstand" um das von vielen Menschen Erkennbare zu bezeichnen,
das "Objektive" also, waerend ich als nichtgegenstaendliches
Erleben bezeichne was nur dem Einzelnen gegenwaertig, was also
inwendig, "subjektiv" ist. Inwendig und aeusserlich beziehen
sich in diesem Zusammenhang auf die Geometrie des menschlichen
Koerpers, da, zu der Zeit als diese Begriffe gepraegt wurden, der
Eingriff in das Innere des Menschen, vor allem in das Gehirn,
unmittelbar zum Tode fuehrte, und mit dem Leben des Menschen
unvereinbar war. In diesen Ausdruecken inbegriffen ist die
Voraussetzung dass auch das Inwendige (lies: die Seele) im
Innersten des menschlichen Koerper verkoerpert ist. Sogar
Descartes fand diesen Widerspruch annehmbar. In einer bekannten
Stelle seines Buches, "Der Begriff Angst," schlaegt Kierkegaard
vor, dass der Mensch (lies: des Menschen Seele) ein Verhaeltnis
ist das sich zu sich selbst verhaelt. Mir scheint es vorteilhaft
den Ausdruck "Verhaeltnis" in diesem Zusammenhang mit dem Wort
"Funktion" zu ersetzen, und zu sagen des Menschen Wesen (lies:
Subjektivitaet) sei eine Funktion welche sich selbst zum
Gegenstand hat, eine rekursive Funktion also, in der
Computersprache: a function which has itself as a function, or a
function which calls itself. Um in der Computersprache zu
beharren: Die Alternative ist, ob man sich das Goettliche als
eine Invariante (a constant) vorstellen soll, eine
Unveraenderliche welche ausserhalb und unabhaenging von der
Funktion des menschlichen Bewusstseins ist und nur von diesem
entdeckt und zum Ausdruck gebracht wird, oder ob das Goettliche
eine Eigenschaft der rekursiven Funktion ist, und als integraler
Teil des menschlichen Bewusstseins, wie Jakob Boehme behauptet,
nur im Zusammenhang mit diesem zum Ausdruck kommt.
Jedenfalls weist das geschriebene Wort den Lesenden auf
seine Gedanken, auf seine Gefuehle, und auf ein Verstehen hin,
dem eine ihm eigene Unmitteilbarkeit anhaftet: ein Verstehen das
unvermeidlich individuell, peroenlioch, subjektiv ist. Dieses
vom geschriebenen Wort ausgeloeste Verstehen bezieht sich auf
sich selbst; und ich moechte die Hypothese wagen, dass insofern
das Verstehen sich auf sich selbst bezieht, das Verstehen sich
auf das Wesen des Verstehenden, also auf das Ich bezieht,
zugleich aber auch auf das Wesen des Verstandenen, welches in
diesem Zusammenhang als das Goettliche erscheint. Denn das
Goettliche ist die Bekraeftigung der Welt im Bewusstsein des
Einzelnen. In dieser Erklaerung liegt die Begruendung weshalb
das gewissenhafte, das ehrliche, das fromme Lesen der Schrift,
jeder Schrift, denn letzten Endes ist jede Schrift heilig, ein
Ausdruck des Gottesdienstes ist, ein Gottesdienst der zugleich
zum Wesen des Menschlichen und zum Wesen des Goettlichen fuehrt
und beide vereint.
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