20021122.00

              Die Antithesis oder die Zuruecknahme

     Es ist lange her, seit ich die Vermutung fasste, dass der
groesste Teil literatur-historischer Bemuehungen darauf zielt,
bestehende Irrtuemer zu berichtigen.  Damals betrachtete ich
dergleichen Irrtuemer als Ausnahmefall in einem prinzipiell
verlaesslichen und folgerichtigen Gedankengeruest eine Aberration
der Literaturgeschichte.

     Heute erscheint mir diese Notwendigkeit der geistigen
Berichtigung, der geistigen Korrektur, der Zuruecknahme, des
Abbaus des Bestehenden als unentrinnbare Konsequenz des Paradoxes
der Idealisierung, als unvermeidliche Folge des metaphysischen
Dilemmas.  Es entspricht naemlich unserer Natur, unserem Wesen,
synthetische Gestalten zu erfinden, Gebilde welche unserem
Verstehen zwar unentbehrlich sind, welche sich dennoch bei
naeherer Betrachtung als Illusionen, als Trugbilder, als
Truggestalten erweisen.  Vergleiche die Linie mit den Punkten in
welche sie bei naeherer Sicht zerfaellt.

     So mag man in den breitesten Zuegen, die Lehre Christi als
die Zurueckname der mosaeischen Gesetzlichkeit (deuten.  Die
Reformation als Zuruecknahme der weltlichen Kirche; und alle
folgenden reformatorischen Bewegungen in aehnlichem Sinne.  Den
Transzendentalismus Kants als eine Zuruecknahme des Positivismus
der Aufklaerung.  Stets der Schein, dass ein Fehler gemacht
worden ist; ein Fehler dessen Berichtigung endlich auf den wahren
Pfad des Heils fuehrt (oder zurueckfuehrt).  Dies aber ist ein
Irrtum, insofern alles Denken, all unsere geistige Taetigkeit mit
einer erbsuendigen Fehlerhaftigkeit belastet ist, eine
Fehlerhaftigkeit welche sich kurz mit dem Ausdruck Idealismus
stigmatisieren laesst.

     Die Entidealisierung also fuehrt nur zu einer beschraenkten
Gueltigkeit.  eben weil der Gedankenbau dem Menschen
unentbehrlich ist, und weil das Abreissen, die Revision eines
bestehenden Baus unvermeidlich zur Errichtung eines neuen
Gebaeudes fuehrt.

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