20050208.00

     Soeben komme ich, - oder sollte ich mich nicht
schriftstellerisch zieren und schreiben: Ich komme gerade vom
Manchester Flughafen zurueck, wohin ich Klemens zu einem seiner
allmonatlichen Fluege nach Nashville gebracht habe.  Es ist gegen
sieben Uhr morgens.  Ich bin seit dreiviertel Stunden zurueck,
habe mich einige Minuten im Wagen, auf zurueckgesenktem Sitz,
ausgeruht, habe den unangebrochenen Proviant in die Kueche
getragen, habe abgewaschen, Margaret schlaeft noch, und sitze nun
hier und diktiere in die Computertastatur als ob ich selbst in
einer entfernten Zukunft, welche ich jedenfalls auf dieser Erde
nicht mehr erwarten sollte, durch dieses Schreiben an die
Gedanken und Gefuehle dieses Tages und an sie moechte erinnert
werden.

     Auf dem Wege erzaehlte ich Klemens von den Briefen die ich
in den juengst vergangenen paar Tagen wiederentdeckt habe, wie
lebhaft sie mich an eine Jugend erinnern, die mir jetzt
unerreichbar ist, es sei denn in Gedanken und Phantasiegebilden,
und wie ich in dieser Erinnerung verjuengt werde, obgleich es mir
garnicht darum geht die Jugend ein zweites Mal zu erleben.

     Ich fand einen Brief meines Vaters in welchem er die
Bangsche Binsenweisheit von der Erinnerung als dem Paradies aus
welchem wir nicht vertrieben werden koennen in Hegelschem Stil
auf den Kopf stellt, mit der Klage, die Erinnerung ist eine
Hoelle der wir nicht entrinnen koennen, vermutlich in Bezug auf
seine KZ Erfahrungen von denen er fast nie sprach, und wobei es
unbestimmt bleiben musste in wiefern es sich auf die Nazibarbarei
bezog und inwiefern auf seine Neigung sich des Leidens als
Rechtfertigungsmittel zu bedienen.  In diesem selben Briefe
beklagt er Margrit's Schicksal, dass sie sein Erbe angetreten
haette; dies hinsichtlich (betreffs) ihrer ausserehelichen
Beziehung zu dem Religionshistoriker Kaese; wobei mir die Frage
einfiel, ob er wohl selbst je eine solche Beziehung unterhalten
haette, eine Moeglichkeit die mir bis eben noch nie eingefallen
ist aber dennoch einleuchtend (eingaengig) erscheint.

     Ich fand einen anderen Brief in welchem ich meine gequaelte
Reaktion (tortured reaction) auf das MiniKZ das Kenneth Hewitt
dem Medical Center gegenueber hatte aufbauen einrichten lassen,
um welches aufzubauen Hewitt den Gottesacker - wo der Friedhof
hingehoert haette, neben der Kirche an den Staat fuer mehrmals
dreissig Silberlingen verkauft hatte.  Ich schrieb in diesem
Zusammenhang, dass es mir in angesicht dieses Vergehens gegen den
Heiligen Geist, nie wieder moeglich sein wuerde zur Kirche zu
gehen.

     Ein weiterer Brief war da, in welchem ich die Kirche als
einen im austrocknen begriffenen, von seiner Quelle
abgeschnittenen verfaulenden Teich beschrieb, dessen Wasser zu
geniessen mich ekelhaft duenkte.

     Und dann ein Brief in welchem ich, recht graphisch, meine
egozentrische Einsamkeit beschrieb, mich selbst in der Mitte
eines von mir gezogenen Kreidekreises, jenseits dessen die Welt
mir fremd, innerhalb dessen mir alles heilig war.  Wie
Kierkegaardaehnlich dies heute klingt, dabei ich damals
Kierkegaard noch nie gelesen hatte, und keine Moeglichkeit
besteht, dass ich diese Metapher, dieses Gleichnis, dieses Bild
plagiiert haben koennte. Sie, Margaret, muesste entscheiden auf
welcher Seite dieses Kreise sie sich einst befinden moechte; und
dann wieder recht graphisch (bildlich), sie stuende jetzt in
einem Tuerrahmen, dass aber die Zeit kaeme, wo eine Tuer den
Rahmen wuerde schliessen muessen, sie muesse sich entscheiden auf
welcher Seite der Wand sie sich dann befinden moechte; meine
Sorge, meine Furcht, dass das Schliessen der Tuer sie verletzen
moechte.  Oder war es Kierkegaard der etwa in dieser Weise an die
Olsen schrieb?

     All dies scheint mir heute so ungeheuer und unreif; so
schmerzhaft fuer das Maedchen, und letzten Endes so gewaltsam und
ungerecht.  Aber ich habe mein Leben mit dem Versuch verbracht,
es wieder gut zu machen.  Entschuldigen will ich mich damit, dass
ich mit neunzehn Jahren noch sehr jung war.  Was aus mir geworden
waere wenn sie sich meiner nicht angenommen haette.  Wer weiss
es. Vielleicht haette ich nicht einmal ueberlebt.

     All dies als Bestaetigung meiner Annahme, dass wir nicht
willentlich handeln, sondern dass die Handlung Ausdruck unseres
Wesen ist, dass die Handlung Ausdruck meines Wesens war.  Dass
die Gerichte nicht meine Handlung sondern mein Wesen bestrafen;
und dass die Gesetze und die Gerichtsurteile, und das gesammte
gesellschaftliche Milieu eine menschlich gestaltete Umwelt ist,
welche meine Handlungen beeinflusst und kontrolliert, obgleich
ich selber, bewusst, darueber keine Kontrolle habe.

     Aber was ist denn das Bewusstsein anders als das Empfinden
der unmittelbaren Umwelt, die ich sehe, hoere, rieche, fuehle.
Der Sinneseindruck des eigenen Koerpers, die Kopfschmerzen, das
Bauchweh, Hunger, Durst und deren Stillung, der Geschlechtstrieb
und seine Befriedigung, diese letztlich aller subjektivsten der
Erlebnisse vermoegen dennoch nicht mein Ich, meine Person zu
bezeichnen (charakterisieren).  Wie erwaehnt, "I am a part of all
that I have seen."  das ist subjektivistisch verdreht, richtiger
ausgedrueckt: All that I see is part of me."  Darueber hinaus ist
das Ich die geistige (neurologische) Zusammenfuegung, Folge,
Verfolg, Ablauf, ist die rekursive Funktion, das Verhaeltnis, das
sich zu sich selbst verhaelt, das immer wieder an der Aussenwelt
entzuendet, das bestaendig von der Aussenwelt genaehrt, fueled,
durch alles das ich sehe und alles das ich hoere, geschuert und
genaehrt, ernaehrt werden muss.

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