20050714.00 Es ist eine unscheinbare, doch sehr tief-schuerfende Unbestimmtheit welche sich daraus ergibt, dass alles Erleben in seinem Ursprung privat, inwendig und geheim ist; dass aber alles Reden, alle Sprache, alle Schrift sich nach Aussen wendet, an den Hoerer und Leser, sei er Freund oder Feind; und dass die Veroeffentlichung unvermeidlicher Weise das Geheime nach Aussen kehrt; so dass Veroeffentlichung ein Verrat an der Seele ist und, warum nicht gleich die Folge ziehen: wenn die Seele goettlich ist, dann ist die Veroeffentlichung ein Verrat an Gott. Da aber der Mensch seiner Natur gemaess ein Gesellschaftswesen ist, erscheint schon hier, ganz am Ausgang der literarischen Karriere, ein Widerspruch, ethisch gedeutet, eine Katastrophe. Fuer diesen Widerspruch gibt es nur eine Loesung, und das ist die Zeit. Im Laufe der Jahre schwindet die leidenschaftliche Komponente des Erlebens. Schicksal bleibt uebrig, in Rilkes Worten, als Bild und nichts als Bild. Um Schicksal zu werden, muss das Erleben reifen. Das Reifen des Erlebens bedarf der Zeit, einer so langen Zeitspanne, dass zuletzt das Reifen von dem Sterben ununterscheidbar ist. Die Umstaende werden zugleich verwickelter und weniger bedenklich (problematisch), durch die Tatsache, dass Veroeffentlichung keineswegs eindeutig ist, insofern als das Veroeffentlichte nicht unbedingt gelesen, oder von nur Wenigen gelesen, und dass es von einem nur geringen Bruchteil der Wenigen die es lesen, in irgendeiner sinnvollen Weise verstanden wird. In den meisten Faellen sind es nicht die praktischen Folgen der Veroeffentlichung die anstoessig sind, denn diese bleiben groesstenteils aus. Anstoessig ist der Vertrauensbruch, ist die Tatsache dass der Schriftsteller das persoenliche oder familiaere Geheimnis an eine wenn auch nur potentielle Oeffentlichkeit verraet. Die Anstoessigkeit des mutmasslichen Verrates aber wird vermindert lediglich durch den Ablauf der Zeit, und eine Veroeffentlichung welche heute anruechig ist, wird in fuenfzig Jahren als harmlos, wenn nicht gar belanglos erscheinen. * * * * *

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