20060222.00
Der Postbote erscheint bei uns am fruehen Nachmittag,
etwa um ein oder zwei Uhr, und heute verstaute er in dem
geraeumigen weissen Briefkasten, nebst verschiedenen
Reklamesendungen auch Peter Wapnewskis "Mit dem anderen
Auge", eine Seelenreklame ausgefallendster Art, aber letzten
Endes doch, wie mir scheint, eine Reklame.
Seiner Zeit hat Karl Vietor, der aus Marburg nach
Harvard verpflanzte Germanist, dem ich die Einfuehrung in die
deutsche Literatur schuldig bin, - dass ich viel gelernt
haette, wage ich nicht zu behaupten, Vietor, jedenfalls, hat
mir empfohlen, wenn man ein Buch bespricht, es freigebig zu
zitieren, um den Verfasser eigens zu Worte kommen zu lassen.
In diesem Geiste habe ich auch, als ich schon am Anfang des
Buches wahrnahm, dass Wapnewski sein Vorhaben praezise
erklaerte, die einschlaegigen Absaetze notiert. Er schreibt:
"Hier will vielmehr ein mannigfach zerstueckeltes,
unausgewogenes und in unkontrollierten Schueben sich
fortlebendes Leben Zeugnis ablegen von der Zeit, die
seine Zeit war und die mit ihm umgegangen ist nach einem
sehr willkuerlich scheinenden Belieben.
Da hat er selbst kaum je das Bewusstsein gehabt,
Herr seiner selbst zu sein. Hat aber staunend zur
Kenntnis genommen, wie seine Zeit mit ihren Genossen
umsprang, - auch mit ihm. Eine Zeit, von der er zu
wissen meint, dass sie hoechst eigentuemlich war, und
von der er ueberzeugt ist, dass man ohne ihre Kenntnis
ein Fremder ist eigener Gegenwart.
Kein Selbstportraet also, kein Ich-Gesang, kein
Monodrama, keine Solonummer. Das "Ich" weil schreibend
nicht zu vermeiden, ist nicht der eigentliche Gegenstand
dieser Seiten, sondern nur eine Stilfigur. Die Absicht
des Schreibenden ist in umso hoeherem Masse erfuellt,
als es ihm gelingt, sein Ich zu tilgen. Und damit sei
erklaert, warum das private Persoenliche abgedeckt,
verdraengt, unterdrueckt ist, - wie immer man es
formulieren mag. Keine anheimelnde Erlebnisse, die von
nichts anderem kuenden als von Freud und Leid des
Subjekts, nichts also von Liebe und Trennung und Wehmut
und Erwartung, der Held ist keiner, sondern die Zeit ist
der Held." (Seite 12)
Damit, scheint mir, ist vieles angedeutet, womit die
sogenannte Autobiographie zurande kommen muss. Wapnewski
betont, dass er nicht ueber sein eigenes Erleben, ueber seine
Gefuehle schreiben will. Sein "Ich" soll nicht der
Gegenstand seiner Darstellung sein, soll eben nur als der
Spiegel wirken in welchem Geschehnisse und Umstaende die es
durchlebt, die es ueberlebt hat, erscheinen. An einem solchen
Vorhaben, finde ich ist nichts auszusetzen. Meine erste
Reaktion auf diese Darstellungen, abgesehen von dem Interesse
das sie unvermeidlich erwecken, ist dass im Vergleich, mein
eigenes Leben mir als ereignislos erscheint, und dass ich
dankbar dafuer bin, dass es so verhaeltnismaessig ereignislos
war.
Der zweite Punkt von Interesse betrifft dann die
Zaehigkeit und Zuverlaessigkeit des Gedaechtnisses; der
Altersschwaechlichkeit des eigenen, bin ich mir hinreichend
bewusst. Bei den Beschreibungen jedenfalls, die ich bis jetzt
gelesen habe, verlaesst sich Wapnewski auf keine Briefe,
Urkunden, Tagebuchaufzeichnungen, sondern lediglich auf seine
Erinnerungen. In dieser Beziehung koennte ich es nicht mit
ihm aufnehmen. Es beschaemt mich ein wenig, einzusehen, wie
duerftig die Geschichten, die ich aus dem Stegreif zu
erzaehlen in der Lage waere. Andererseits bin ich mir
bewusst, dass wir im Laufe der Jahrzehnte alle Briefe,
berufliche und wirtschaftliche Urkunden meiner Eltern
aufbewahrt haben, wie auch die eigenen; so dass Belege fuer
eine Familienbiographie reichlich vorhanden waeren. Aber von
welchem Interesse, und fuer wen? Moeglicherweise, dass es
ein Mangel meinerseits ist, dass ich die aeusseren Begebnisse
der Familiengeschichte so wie auch des eigenen Lebens letzten
Endes uninteressant, belanglos finde, nicht der Muehe wert
registriert, geschweige denn, gelesen zu werden.
Bis hierhin war ich gestern gekommen. Ich hatte meinen
Lesen von Wapnewskis Buch eben gerade an jener Stelle
unterbrochen, wo Wapnewski selbst der Wehrmachtszersetzung
beschuldigt und verhaftet wird. Die Angst welche er dadurch
erlitt ist unverkennbar. Auf einmal schwinden der sachliche
Ton, die Gelassenheit mit welcher er sein Mitwirken in der
Hitlerjugend, seine Beteiligung am Feldzug gegen Russland,
seine Verletzung, den Verlust seines rechten Auges beschrieb.
Oder scheint es mir nur so? Das Ich, welches er so
vorsaetzlich in den Hintergrund geschoben hatte, macht seine
Ansprueche geltend. In seiner Angst beschreibt Wapnewski das
Schicksal des Kuenstlers, des Pianisten der durch den Verrat
von Bekannten in Ploetzensee ermordet wurde. Nun beschimpft
er den Journalisten welcher in den letzten Monaten des
Krieges noch einen Wundersieg versprach. Die Angst, die
Empoerung sind mir verstaendlich; scheinen unter diesen
Umstaenden unumgaenglich. Es gibt Erlebnisse ueber welche
man nicht leidenschaftslos berichten kann, oder wenn man es
kann, nicht darf. Offensichtlich gibt es da Grenzlinien
welche gezogen werden muessen, die aber ein jeder Mensch,
seinem Wesen, seiner Veranlagung entsprechend selbst ziehen
muss. Kein Mensch darf sich anmassen die Grenze des
unerlaesslichen Beteiligtseins fuer einen anderen zu ziehen.
Kein Mensch darf einem anderen vorschreiben jenseits welchen
Striches er es sich nicht mehr erlauben darf die Welt
sachlich zu schildern, und an welchem Ort es seine Pflicht
wird sich selbst, sein Ich ein- und aufs Spiel zu setzen.
Ich muss an das Lied aus Wallenstein's Lager Denken:
Und setzet ihr nicht das Leben ein,
nie wird Euch das Leben gewonnen sein.
Es klingt fast kitschig, aber schein doch wahr in jenem
Reimpaar, das Wort "Leben" mit dem Wort "Seele" zu ersetzen.
Vielleicht ist es nur weil mein Leben dergleichen Gefahren
nie ausgesetzt war, dass ich empfindlicher und reizbarer auf
die Welt in der ich lebe reagiere, so dass es mir
grundsaetzlich unmoeglich ist, diese Welt in der ich lebe,
leidenschaftslos zu betrachten.
Soweit gestern. Indem ich nun "Mit dem anderen Auge"
aufs neue in die Hand nehme faellt die Ueberschrift des
naechsten Kapitels mir in die Augen: Karlrobert Kreiten, Ich
und Wir. also doch jetzt ein Selbstportraet, ein Ich-Gesang;
wie koennte es anders sein? Und was besagt es ueberhaupt,
dass man je meinte, dass es anders sein koennte?
Ueber diese Episode, scheint es mir, kommt Wapnewski
nicht hinaus. Sein durchstoebern der kuerzlich
wiedergegruendeten Universitaeten, die Angeberei mit den
Namen der Beruehmten, diese offensichtliche Heimat- und
Ziellosigkeit ruft mir das Schubertlied ins Gedaechtnis,
Und ich wandre sonder Massen ohne Ruh und suche Ruh.
Ursache von Wapnewskis Unruhe ist die deutsche
Vergangenheit, welche sich nicht bewaeltigen lassen will,
welche sich auch durch keine akribischen Angriffe auf andere
in ihrer Hilflosigkeit, durch keine extravaganten
Bekenntnisse des eigenen Schuldbewusstseins beheben laesst;
und welche sich vielleicht ueberhaupt nicht im Rahmen der
bestehenden politischen Ethik beheben laesst.
Angst, Schrecken, Abscheu und Widerwillen (Abomination)
gegen die Politik der einstigen deutschen Regierung und ins
besondere gegen die von ihr veruebten Massenmorde moegen
erbaulich sein, moegen die wuenschenswerte Wirkung ausueben
dergleichen Ausschreitungen gegen Menschheit und
Menschlichkeit kuenftig vorzubeugen, aber die Bedraengnis
beheben, unter welcher der Einzelne in Betracht des Benehmens
(Betragens) seines Volkes leidet tun sie nicht. Ob diese
Bedraengnis ueberhaupt behoben zu werden vermag, ist eine
andere Angelegenheit.
Die Angst vor der NS Unmenschlichkeit kann nicht in der
Vergangenheit, es kann nur in der Gegenwart verstanden,
bearbeitet, und wenn ueberhaupt, vielleicht in begrenztem
Masse beseitigt werden. Wapnewski beteuert "selbst kaum je
das Bewusstsein gehabt" zu haben, "Herr seiner selbst zu
sein." Doch scheint es mir, dass gerade dies, "Herr seiner
selbst zu sein," die einzige, und die am Ende allein
seligmachende Aufgabe ist, die dem Menschen sein Leben
bietet, und ihm zur Erfuellung dieser Aufgabe behilflich zu
sein, die letzte, wesentlichste Aufgabe des Schrifttums. Ob
es dem Verfasser zuletzt doch gelungen ist, mag dahingestellt
bleiben.
Es ist schwierig und problematisch die Vergangenheit zu
vergegenwaertigen. Sie aber nicht zu vergegenwaertigen waere
noch problematischer. Vergegenwaertigen heisst aber nicht
die Gegenwart in die Vergangenheit zu verschleppen, wo sie
verloren geht, um sie dort vernachlaessigen und zuletzt
vergessen zu koennen. Vergangenheit zu vergegenwaertigen
heisst zu erkennen, dass was heute unter uns geschieht strikt
vergleichbar ist mit dem was vor siebzig Jahren geschah, und
dass wie wir heute darauf reagieren, was wir heute tun und
unterlassen, gleichfalls vergleichbar sein moechte mit dem
was wir einst taten oder getan haetten.
Nicht der geringste der Schaeden welche die
Naziherrschaft der Welt und der Weltgeschichte zugefuegt hat,
ist dass sie ein Mass des Boesen geliefert hat an dem uns zu
messen ueberaus unbeschwerlich an dem unsere
Selbstgerechtigkeit messen, und wohltuend ist. naemlich ganz
einfach ins dem wir uns mit Hitler vergleichen, und uns mit
vielem Boesen das wir tun oder erlauben oder als unvermeidbar
betrachten, rechtfertigen, indem wir sagen, bedauerswert
zwar, aber nicht so schlimm wie Hitler. So wirkt der Greuel
der Naziherrschaft, und die Angst welche sie uns einfloesst
wie eine Blendlaterne die uns blind macht fuer das was die
Regierung in der Bevoelkerung Namen anrichtet.
Um die eigene Schlechtigkeit zu begreifen ist es vorerst
notwendig die vermeinte Schlechtigkeit des anderen "boesen"
Menschen zu verstehen. Die Aufgabe ist, wie bei allem
Verstehen, sich nach Moeglichkeit in seinen Gemuetszustand zu
versetzen, zu begreifen nicht nur was er getan hat, sondern
warum, und was ihn zu seinem Tun getrieben hat, und was es
haette sein moegen das ihn von der umstrittenen Tat
abgehalten haette. Auch muss ich erkennen und eingestehen
dass die Bezeichnung des Boesen die Nebenwirkung hat mich
selber in gutes Licht zu setzen. Und dies, mich selbst zu
rechtfertigen, bewirke ich vornehmlich indem ich urteile,
indem ich verurteile, indem ich das was der andere Mensch
verrichtet hat als unmenschlich bezeichne. Erst wenn ich
gelernt habe zu sagen und zu denken: das war menschlich, das
heisst, so haette auch ich zu handeln vermocht, erst dann bin
ich faehig das Boese zu verstehen; und wenn ich das Boese
verstehe, verstehe ich dass auch das Boese menschlich ist,
vielleicht sogar dass das Boese das wirkliche, das einzig
Menschliche ist. Erst dann werde ich in der Lage sein, mich
selbst zu begreifen, wie und wer ich bin, und erst wenn ich
mich zu diesem Begreifen durchgerungen habe, wird es mir
gelingen mich mit dem Gedanken, dass es mir vergoennt ist
nicht so handeln zu muessen, zu beruhigen und zu troesten.
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