20060415.00
Es ist erstaunlich und besagt eigently viel ueber die
Deutung der Literatur, wenn nicht sogar ueber unser Begreifen
des Wirklichen im allgemeinen, dass Jahre vergehen muessen,
in diesem Falle, fast ein ganzes Leben, eh mir die Bedeutung
eines kleines Dinges, einer geringen Sache, im gegebenen Fall
eines kurzen Gedichtes klar bewusst wird. Und auch dann
vermag ich nicht mit Ueberzeugung zu sagen, dass diese
Bedeutung entgueltig sein sollte, dass sie irgendetwas mehr
waere als voruebergehende vorlaeufige Feststellung, die nach
unvoraussehbarer Zeit von einer anderen abgeloest wird.
Das Gedicht welches diese Erwaegungen ausloest ist
Wilhelm Muellers "Das Wandern" womit die von Schubert
vertonte Schoene Muellerin beginnt. Ich habe mir bei diesem
Gedicht, mit dem ich schon als Kind vertraut war, denn es war
uns ein als volktuemliches Wanderlied gelaeufig und beliebt,
nie sehr viel gedacht. Verblueffend stets fand ich jedoch
die vierte Strophe, die von den tanzenden Steinen welche mit
den muntern Reihn tanzen. Ich stand unter dem Eindruck, dass
die gemeinten Steine jene vom Wasser glattgeschliffenen im
Bett des Baches waren, wie etwa die Steine die man in den
Grundmauern vornehmerer Haeuser in Konnarock mit Moertel
zusammenfuegt, weil sie umsonst aus dem Bach aufzulesen
waren, indessen die teueren Backsteine aus dem Tal in die
Berge importiert werden mussten. Ich vermutete dass es die
ueberreizte Fantasie des Dichters war, welche das wechselnde
Bild dieser Steine unter wellig bewegtem Strom, zu
Scheinbewegung, gar zu eingebildetem Tanz umdeutete. Das
schien mir eine gewagte, extravagante Vorstellung; aber da
sonst keiner Anstoss nahm, und das Lob des Wanderns durchaus
den eigenen Gefuehlen entsprach, liess ich die Ungereimtheit
auf sich beruhen. Erst im letzten Jahr ist es mir klar
geworden, dass mit den regsamen Steinen nicht die
geschliffenen Felsfragmente im Flussbett gemeint sind,
sondern die Muehlsteine selbst, die sich drehen und drehen
und unablaessig drehen; und dass dieses Drehen der gemeinte
Tanz ist. Was aber "den munteren Reihn" anlangte, so dachte
ich, das dieser Reihn ein besondere Tanz sein mochte,
vielleicht ein Steintanz, mir unbekannt, weil ich von Natur
kein Taenzer bin, und weil ich den Verlust der deutschen
Muttersprache in meinem achten Lebensjahr nie voellig
verschmerzt habe. Erst heute, in dem ich dies schreibe meine
ich zu erkennen, dass die "muntern Reihn" die Reihen der sich
bewegenden Raeder im Muehlengehaeuse sind welche die Drehung
des vom Wasser getriebenen Muehlrades aus der Horizontale in
die Senkrechte uebersetzen, ein mechanisches Getriebe also,
mit dem sich die daran gekuppelten Muehlsteine unvermeidlich
synchronisch bewegen. Dass aber diese gleichmaessige
mechanische Bewegung als ein Tanzen dargestellt sein sollte,
verkennt das Beharrungsvermoegen des schweren
Muhlengetriebes, und laesst vermuten dass dieser Dichter
jedenfalls kein Ingenieur war.
Ein um manches bedeutenderer Widerspruch liegt in der
Behauptung, das Wandern sei des Muellers Lust. Denn
offensichtlich ist es doch ausgerechnet der Mueller der durch
die Eigenart seines Gewerbes fest und unabloeslich an den
Muehlenort gebunden ist; an jene Stelle wo es gelang den
abwaerts fliessenden Bach zu daemmen, und die Leistung des
Gefaelles in brauchbare Energie zu verwandeln. Die Muehle
also wird dem Mueller der bestimmte Ort an den er gebunden
ist; wird ihm zum Gefaengnis; und weil ihm die Arbeitsstelle
zum Gefaengnis geworden ist, wird ihm das Wandern zur Lust,
Lust wohlbemerkt nicht des Genusses, nicht der Erfuellung,
sondern die Lust der Sehnsucht.
Die tragische Geschichte des wandernden Burschen der wie
von einem boesen Geist in die Muehle gelockt, dort von der
Liebe, von seiner Liebe zur Muellerstochter zugrunde
gerichtet wird, beansprucht im Rahmen vorgehender
Betrachtungen verstanden zu werden. Er ging zu Grunde, weil
er das Wandern verraten hatte, weil er eine Haeuslichkeit
begehrte, die ihm versagt war. Er wollte, wie wir alle,
"immer nach Hause", aber sein zu Hause war der Tod.
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