20070125.01
Ueber die Ethik
Jahrelang, moeglicherweise unter dem Einfluss Kants,
habe ich mich unter dem Eindruck befunden, dass die Probleme
der Erkenntnis letzthin unloeslich sind, und zu dem einzig
gueltigen Schluss des Sokrates fuehren, dass ich nichts weiss,
als dass ich nichts weiss. Goethes zum Tode verzweifelter
Faust klagte: "Und sehe, dass wir nichts wissen koennen."
Indessen meinte ich, gleichfalls unter dem Einfluss Kants
dass es auf ethische Fragen hingegen Antworten gibt, die sich
vorbildlich in Saetzen, in Gesetzen, in Imperativen aussagen
lassen.
Je mehr ich nun darueber nachdenke, desto fester wird
meine Ueberzeugung, dass dies nicht der Fall ist, und dass
ethische Ueberlegungen nicht weniger als erkenntnistheoretische,
zu einem vergleichbarem Beschluss der Unmoeglichkeit einer
Aufloesung kommen muessen. Das "Ich weiss, dass ich nichts
weiss," der Griechen hat sein Gegenstueck in dem: "Wir wissen
nicht was wir beten sollen," des Paulus. Wir wissen nicht
was wir beten sollen heisst dasselbe wie, wir wissen nicht
was wir tun sollen. Und ganz spezifisch: Ich weiss nicht
was _ich_ tun soll.
In Sachen der Ethik erscheint es mit unverkennbarer
Deutlichkeit was es heisst, dass der Mensch ein Gesellschafts-
wesen ist. Denn was er tun und lassen muss, wird ihm zuerst
von seinen Eltern, von seinen Lehrern erklaert und erzwungen.
Im Gehorsam, in dem Befolgen von Anweisungen, Regeln und
Gesetzen, findet er Sicherheit. Aber nur anfangs, denn nicht
lange bis er zu vermuten, zu ahnen beginnt, dass diese Regeln
keine unbedingte Gueltigkeit haben, dass sie sich oft wider-
sprechen, und dass sie manchmal zu sehr destruktiven und
paradoxen Ergebnissen fuehren. Die Debatte im Nachlauf der
Veroeffentlichung von Kants Kritik der Urteilskraft ueber
die vermeinte Pflicht dem Moerder den Verbleib seines Opfers
nicht luegenhaft vorzuenthalten ist freilich nur die Spitze
des Eisbergs. Genau betrachtet ist die gesamte Gesetzgeberei
in vergleichbarer Weise fragwuerdig. Man erkennt die Gesetze
als allgemeingueltig an, weil man nicht den Mut aufbringt,
sie in Frage zu stellen. Bezeichnend ist: wie immer
makelhaft und verderblich das Gesetz, die Pflicht ihm zu
gehorchen verbleibt.
Ueberhaupt muss die staatliche Gesetzgebung als
prototypisch fuer die Ethik erkannt werden. Wenn es eine
Ethik gibt, dann in der Gesetzgebung, und wenn nicht in der
Gesetzgebung, dann nirgends. Der Gesetzgeber beansprucht das
Gesetz auf einen spezifisch definierten Umstand abzustimmen,
manchmal erfolgreich, manches mal nicht. Ganz im allgemeinen
muss der Rechtsanwalt als Ethiker schlechthin erkannt werden,
denn es ist sein Amt den Anspruch des Gesetzes mit den
Umstaenden und Notwendigkeitden des pratischen Lebens zu
vereinbaren.
Der sogenannte Konflikt der Gesetze spielt in der
Rechtstheorie, besonders in den Vereinigten Staaten, eine
wichtige Rolle. Gibt es nur ein Gesetz oder sind mehrere
sich widersprechende Gesetze denkbar. Insofern
widerstreitende Gesetze als gleichberechtigt erscheinen,
heben sie einander auf. Insofern eines dem anderen
untergeordnet sein moechte, bestaerken sie einander.
Der Unterschied zwischen dem Erlass, der Verordnung, und
dem Gesetz besteht darin, dass die Verordnung den Beschluss
eines einzelnen bestimmten Herrschers bezeichnet, ein
Beschluss mehr oder weniger willkuerlich, welches vom
Herrschenden jeweils abgeaendert zu werden vermag, und durch
welchen er nicht gebunden ist; indessen das Gesetz seinem
Wesen nach ueberpersoenlich sein muss, und, in der letzten
Instanz auch der Herrschende dadurch gebunden ist. Hierin
liegt ist das Wesen der verfassungsmaessigen Regierung.
Um sich die Eigenschaften, Errungenschaften, Wirksamkeit,
Irrtuemlichkeit und Hinfaelligkeit der Ethik vorzufuehren
bedarf es keiner Bemuehung als das oeffentliche Recht, die
Gesetzgebung und ihre Gerichtsbarkeit in Augenschein zu nehmen
und zu untersuchen. Da meine eigene diesbezueglich Kompetenz
sich nicht weiter als auf die Gesetze der Vereinigten - und
einzelne ihrer Mitgliedstaaten erstreckt ist es axiomatisch
dass aus einem weiteren, oder jedenfalls aus einem anderen
Blickfeld andere Ergebnisse zu ernten seien. Es waere
meinerseits unklug die eigene unvermeidlich beschraenkte
Erfahrung zur Grundlage fuer ein umfassendes welt-historisches
Urteil aufzublaehen, andererseits aber ist es logisch
unmoeglich auf die vermeintliche Allgemeingueltigkeit zu
verzichten welche jedem Urteil unvermeidlich anhaftet.
.PP
Es ist bemerkenswert wie geringschaetzig man ueber die
Gesetzgebung urteilt. Ich erinnere die Bismarck
zugeschriebenen Worte: "Je weniger die Leute darueber wissen,
wie Wuerste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen
sie nachts." Die Ethik erscheint also als etwas hoeheres,
edleres, goettlicheres als die (menschliche) Gesetzgebung,
aber nur als ein unerreichbares transzendentales Wesen mit
dem am Ende nichts anzufangen ist.
Die bezeichnende Eigenschaft der Gesetzgebung ist
ihre Begrifflichkeit, womit sie letzten Endes an
den einzelnen Menschen und das was ihm geschieht nicht
zu erreichen vermag. Sie bewegt sich also in einem
befremdlichen, von ihr selbstgeschaffenen Bereich,
dessen Wirklichkeit eine ersonnene und gekuenstelte ist.
Eh sie den Gehorsam zu erzwingen vermag, muss sie die
Einheitlichkeit und Eindeutigkeit der Sprache, vielmehr
der Schrift erzwingen. Und schon darin wird sie versagen.
Am Ende bleibt nichts als die Willkuer der Richter.
Eines ist es sich die Ethik zu ertraeumen oder
vorzuphantasieren, wie sie sein sollte. Ein anderes, und
wie mir scheint sinnvolleres, zu beschreiben wie sie
tatsaechlich ist. Das Verfahren also betreffs Ethik
waere gleich dem Verfahren betreffs der Erkenntnis,
wo es bei weitem erspriesslicher ist, mich selbst zu
fragen was ich denn tatsaechlich weiss, und wie ich es
weiss, als darueber zu spekulieren was Wissenschaft sein
moechte, oder wie Wissenschaft moeglich waere.
Nebenbei bemerkt, was doch eigentlich den Hauptpunkt
darstellen sollte: das Bekenntnis des Nichtwissens
im Bereich des Erkennens fordert ein wesentliches Opfer,
ein Opfer vergleichbar mit dem des Nichtwissens im
Bereich der Handlung. Man muss bereit sein im einen
Falle als ein Dummkopf zu erscheinen, im anderen als
ein Schurke.
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