20080103.01
Das philosophische Schrifttum muss, um dem
Verstaendnis zugaenglich zu sein, als Dichtung gelten. Das
philosophische Schrifttum kann unmoeglich als Wissenschaft
gedeutet werden.
Was heisst Wissenschaft? Man muss, im Betrachten der
Wissenschaft, das Wissen des Einzelnen, das was _ich_
weiss, von dem Wissen der Menschheit oder der Gesellschaft,
von dem was "man" weiss, streng unterscheiden. Was ich
weiss mag vielleicht in gewisser Hinsicht, keineswegs aber
unbedingt, als ein Splitter des "allgemeinen Wissens"
betrachtet werden. Ich beabsichtige beides "was ich weiss"
und "was man weiss" zu behandeln, aber getrennt, in
verschiedenen Absaetzen wenn nicht in verschiedenen
Kapiteln, getrennt vor allem, um eine unheilsame Vermengung
zu vermeiden welche das Verstehen unmoeglich macht.
Die oeffentlich anerkannte Wissenschaft, das "was man
weiss" ist eine gigantische Vorstellung moeglichen
Geistesgutes das jeden denkenden Mensch einlaedt
(beauftragt), es sich anzueignen, wenngleich auch der
begabteste dazu nicht faehig ist, Dieses Geistesgewebe
besteht als denkbare Moeglichkeit welche in ihrer Ganzheit
von keinem einzelnen Menschen bewaeltigt zu werden vermag.
Die Wissenschaft ist ein offenes, unbegrenztes Modell,
wirklich nur als solches (naemlich als Modell) wobei dem was
vermeintlich modelliert wird nur begrenzter Wirklichkeit
entspricht, ein Modell das dennoch dem Menschen sein
wirksames Handeln und Denken ermoeglicht und in
beschraenktem Masse bestimmt.
Bemerkenswert vor allem ist, dass die Wissenschaft ein
gemeinschaftliches Schema ist, dessen Sinn von seiner
Gesellschaftlichkeit herruehrt, davon naemlich, dass dieses
Gewebe anderen Menschengeistern zugaenglich und von ihnen
abhaengig ist; und dies obgleich von keinem Einzelnen (auch
nicht von mir) gefordert wird, oder auch nur erwartet
werden kann, die Wissenschaft in ihrer Ganzheit zu verstehen
oder zu begreifen.
Ein naheliegender Widerspruch ergibt sich dann sofort
aus dem faustischen Bestreben des Einzelnen diese gesammte
Wissenschaft dennoch begreifen zu wollen: eine
Unmoeglichkeit nicht nur wegen des Ausmasses und der
Unuebersichtbarkeit der "Wissenschaft", sondern eine
Unmoeglichkeit vor allem wegen der unvermeidlichen
Diskrepanz zwischen individuellem und gemeinsamen,
kollektivem Wissen. Das individuelle Wissen ist subjektive
Faehigkeit; die Wissenschaft hingegen, das gemeinsame Wissen,
ist ein ideales Schema von Formen und Bestimmungen. Das
individuelle Wissen ist ueberall und zu jeder Zeit dem
Einzelnen der darueber verfuegt, unbedingt zwingend, hat
aber anderweitig keine Substanz. Das allgemeine Wissen,
die Wissenschaft, ist stets nur fragmentarisch greifbar und
bleibt als ganzes eine ideale Vorstellung.
Die Wissenschaft hat eine doppelte Beziehung zur
Wirklichkeit, denn erstens ist die Wissenschaft ihrem
Ursprung nach auf die Wirklichkeit (ein)gerichtet, das
heisst, ihre Bestimmungen sind Momentaufnahmen
(Schnappschuesse) der Beziehung eines Einzelnen zur
Wirklichkeit, sind Abbilder von dem was dem einzelnen
Forscher momentan wirklich war. Und zweitens ermoeglicht
die Wissenschaft dem Einzelnen ein zwar nicht verlaessliches,
und nur momentanes, fragmentarisches Ergreifen des Wirklichen.
Das gueltigste Verstaendnis von dem was mit
"Wissenschaft" gemeint wird, ergibt sich von der Einuebung
in sie und von der Ausuebung des von ihr Gebotenen.
Die Wissenschaft ist Vorstellung und ist alles andere
als Dichtung. Dichtung hingegen ist die Beschreibung der
Wissenschaft. Dichtung ist auch die Beschreibung der
Geisteswissenschaften und die Erzaehlung von der
Vergangenheit, die Geschichte. Der Stoff der Geschichte
aber ist Mythos.
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