20081102.00
Vier Monate sind vergangen, seit ich mich zuletzt mit
meinen Tagebuchaufzeichnungen beschaeftigte. Waehrend
dieser Zeit habe ich mein Muehen und Sorgen fast
ausschliesslich auf den Ausbau des Nantuckethauses
gerichtet. Die ersten Stadien der Klempneranlage und der
elektrischen Anlage sind abgeschlossen. Nun muss ich
abwarten bis das Geruest und die elektrische Anlage
inspiziert sind. Die Inspektion der Klempneranlage wird
vermutlich abgelehnt werden, weil die Behoerden sich
geweigert haben, mir, der ich kein Klempner bin, die
Erlaubnis zu dieser Arbeit zu erteilen. Ich habe sie
dennoch getan, mit Folgen die kaum vorauszusehen sind. Ich
weiss keine Alternative, als sie auf mich zukommen zu
lassen.
Das alternde Gedaechtnis ist ein loecheriges Sieb.
Vieles was ich vor Wochen, wenn nicht gar vor Tagen erwogen
oder gar beschlossen habe ist mir heute entschluepft, und
ist mir nunmehr unerreichbar. Unter diesen Umstaenden,
bleibt mir nichts uebrig, als mit dem Denken so zu sagen
von Vorne zu beginnen, von Anfang an.
Solche Wiederholung ist keineswegs unbedingt zu
beklagen. Im Gegenteil, fuer mich bietet sie Gelegenheit
meine Gedanken systematisch und kritisch zu ueberblicken,
und deren verschiedene Themen mit einander zu vereinbaren.
Fuer den Leser, wenn es ihn geben sollte, moechte die
wiederholende Zusammenstellung die Muehe des Verstehens
wesentlich erleichtern.
Wenn ich heute nachmittag den Versuch anstelle, die
Problematik meines Erlebens darzustellen, so faellt mir als
Erstes auf, dass der Anspruch der Wissenschaften die
Raetsel des Daseins zu entwirren, in meinem Falle
jedenfalls versagt, dass es fuer mich eine
wissenschaftliche Antwort auf meine Fragen nicht gibt.
Weder die Naturwissenschaften noch die
Geisteswissenschaften, sogenannt, bieten Erklaerungen oder
auch nur Beschreibungen die mir behilflich waeren mein
Erleben und mich selbst zu begreifen.
Aus diesem Versagen ergibt sich die erste Frage:
Nicht, im Sinne Kants, Wie ist Wissenschaft moeglich,
sondern gruendlicher als dies: Was ueberhaupt ist
Wissenschaft? Indem ich dieser Frage nachspuere, faellt
mir auf, dass mir als Einzelner, hier und jetzt,
Wissenschaft in jeglicher Dimension unerreichbar ist.
Wissenschaft ist stets etwas jenseits meines
Erkenntnisbereiches. Eine Vorstellung, eine Hoffnung, eine
Erwartung (expectation), vielleicht auch ein Anspruch, aber
nie und nimmer etwas von dem ich mit Sicherheit behaupten
kann, dass ich darueber hier und jetzt verfuege.
Wissenschaft ist ein Versprechen das nie gehalten, nie
erfuellt wird.
So ergibt sich die erste Frage: Was ist Wissenschaft?
Ich will es mir aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben
erklaeren. Ich sehe die Wissenschaft als einen Plan, eine
Vorstellung, ein Projekt von einer grossen Anzahl Menschen
unterhalten und doch in seiner Ganzheit keinem auch nur
annaehernd zugaengig. Und dabei ist Wissenschaft doch der
Rahmen welcher die Zusammenarbeit der modernen Technik
ueberhaupt erst ermoeglicht. Wissenschaft ist ein
objektives Gebilde dessen Objektivitaet zugleich auf seiner
Oeffentlichkeit und auf seiner Wirksamkeit beruht. Kein
Einzelner vermag die Wissenschaft zu ergreifen. Sie ist
ein Gesellschaftsphaenomen.
Und schon hier entpuppt sich mein Vorurteil das einen
Grenzstrich zieht zwischen dem Einzelnen und der
Gesellschaft. Dass der Mensch nicht nur Einzelner sondern
zugleich ein geselliges und ein gesellschaftliches Wesen
ist, wird oft genug betont, aber die Problematik die sich
aus dieser Doppelheit ergibt, bleibt unueberblickbar. Sie
erscheint immer wieder in unerwarteten Gestalten als
unloesbarer Widerspruch.
Das Ausmass in welchem diese Vorstellung mein Denken
zuegellos durchdringt, versetzt mich in Verlegenheit, denn
ich beurteile die Einseitigkeit der Gedanken als eine
gefaehrliche Beschraenkung. Weiss ich doch aus Erfahrung,
dass alles auch nur scheinbar gueltige Denken dialektisch
ist, also in Widerspruechen besteht.
In geschichtlicher Perspektive erscheinen auch andere
Dualitaeten als grundliegende Widersprueche, so etwa die
Antinomie von Gut und Boese (welche das urspruengliche
religioese Erleben zu beherrschen scheint). Danach der
Zwiespalt von Koerper und Seele, von Stoff und Geist. Man
hat sich jahrtausende mit diesen Antinomien abgeplagt ohne
zu einer befriedigenden Vereinbarung zu gelangen; und ich
befuerchte man wird, einst zurueckblickend, eine
vergleichbare Leere auch in den Ueberlegungen betreffs des
Konfliktes zwischen Individuum und Gesellschaft erkennen.
Wenn ich aus diesen historischen Betrachtungen irgend
Schluesse oder Lehren ziehen sollte, so ist es dass
Dualitaet, dass Widerspruch, niemals zu ueberwinden ist,
jedenfalls in dem Sinne, dass die eine oder die andere
Partie den Sieg gewinnen moechte, - sondern dass die
Loesung insofern es sie gibt, die "Resolution", eine
dynamische werden muss. Eine dynamische "Loesung" ist das
Vertiefen in die Wechselwirkung der Gegensaetze, ein
Verstaendnis das auf jeden Anspruch einer endgueltigen
Loesung verzichtet, das zur Anerkennung, zur Assimilation
fuehrt.
Das Begreifen, das Verstehen, liegt in einem
dynamischen Verhaeltnis, im Hin und Her, in der Schwingung
zwischen den beiden Polen Dies zu erkennen fuehrt zu der
Einsicht, dass das endgueltige Begreifen die Entsagung ist,
der Verzicht auf das Wissen, und das Eingestaendnis des
Nichtwissens, wie Sokrates es zuerst gelehrt hat.
* * * * *
Zurueck - Back
Weiter - Next
2008 Index
Website Index
Copyright 2008, Ernst Jochen Meyer