19970101.03

     Platon hat den Begriff des Ideals in das abendlaendische
Denken eingefuehrt.  Die ungeheuere Wirksamkeit dieses
Gedankengebildes draengt nach Erklaerung.  Moeglich dass die
Empfaenglichkeit fuer das Ideal in der Natur wurzelt, im Wesen
des Menschengeistes.  Das idealistische Philosophieren ist
untrennbar an den Namen Platons gebunden, und mag eine Erfindung
Platons sein, aber das Idealisieren an sich ist Ausdruck einer
primitiven Funktion des Geistes, Ausdruck einer fundamentalen
Wirkungsweise des menschlichen Gemuets.  So sind auch die
platonischen Ideen Abwandlungen eines tiefliegenden
Idealisierungsdranges welcher, so scheint es mir, von
ueberragender Bedeutung fuer das menschliche Denken ist.

     Die Bedeutung des Ideals geht weit ueber seine Darstellung
in der platonischen Philosophie hinaus.  Auch ist die Annahme
dass das Ideal, mit ethisch und aethetischem Wert durchtraenkt,
als etwas ausser und ueber dem Menschen existieren sollte, eine
ueberfluessige, dem platonischen Idealismus eigene,
Beschraenkung; durchaus vergleichbar mit der Beschraenkung der
juedisch-christlichen Ueberlieferung welche bestimmt, dass
Jehovah und Jesus eine Existenz ausserhalb der Subjektivitaet des
Einzelnen gebuehrt.  Mir scheint es jedoch, dass so wie das
Goettliche nicht in den Wolken thront, sondern im Innernen des
Menschen, in seiner Subjektivitaet, und nur dort aufzusuchen ist;
so existiert auch das Ideal nicht als etwas Jenseitiges, vom
Menschen als ausserhalb seiner selbst liegend angestrebt, sondern
es existiert immanent in seinem Wesen.  Dabei ist das
Idealisieren ein fundamentaler Vorgang des Erkennens, und eine
grundlegende Beschaffenheit des Wertens, und erscheint als eine
Schnittstelle zwischen den Bereichen der Erkenntnis und des
Wertens.

     Um die Bedeutung von Ideal und Idealisierung zu begreifen,
ist es notwendig das Erscheinen des Ideals auch in den einfachen
Erkenntnisvorgaengen zu betrachten.  Es ist aufschlussreich zu
bemerken, wie Idealisierung schon als wesentlicher Bestandteil
menschlicher Wahrnehmung (perception) in Erscheinung tritt, im
visuellen Erkennen von Punkten, Linien, Flaechen, Kreisen und
Sphaeren zum Beispiel.  Es tritt in Erscheinung auch in der
Bildung von Begriffen; und wir idealisieren Dinge und Menschen
schon dadurch, dass wir sie mit Namen nennen.

     Am Klarsten und Eindrucksvollsten, vielleicht weil am
Einfachsten, ist der Vorgang der Idealisierung beim Erblicken von
Gegenstaenden und vor allem, beim Erblicken von deren
Begrenzungen.  Der Punkt ist ein Ideal, gleichfalls die Linie,
die Flaeche und die zahlreichen geometrischen Gestalten in welche
sie eingehen.  So etwa der ungeheuerlich grosse Himmelskoerper,
der uns wegen seiner weiten Entfernung als Punkt erscheint, nicht
anders als der winzige Leuchtkaefer der in ein paar Meter
Entfernung ueber dem sommerlichen Rasen mit phosphorizierendem
Gluehen sein Liebchen lockend, dem Auge gleichfalls als
leuchtender Punkt auffaellt.  Der Punkt als Grenzerscheinung der
Flaeche ist eine ideale Gestalt welche sich aus der Physik und
Physiologie unseres Gesichtsvermoegens ergibt.  Auch am welligen
Meer, das am fernen Horizont scheinbar zur geraden Linie wird,
welche sich dann aus geringer Hoehe als ein Bogen erweist,
bewirkt das Gesichtsvermoegen die Idealisierung.  Der Punkt, die
Linie, der Bogen, die Flaeche, diese und alle geometrischen
Formen sind Schnittstellen von Mensch und Welt, von Erkennendem
und Erkanntem, von Subjekt und Objekt.  So auch die
mathematischen Verhaeltnisse, wie etwa die Gebilde der Geometrie,
die Gleichungen der Algebra; und den Wahrnehmungsvorgaengen nah
verwandt, und deshalb vielleicht so ergreifend, die
idealisierende Integral und Differentialrechnung.

     Die wesentliche Eigenart der Idealisierung ist dass sie die
Unregelmaessigkeiten der Erscheinungen beseitigt; und
ungleichartige (disparate) Bestandteile zu einem homogenen Ganzen
zusammenfuegt.  So, zum Beispiel, verbindet das Auge die
verschieden gerichteten Striche, streift alle
Unregelmaessigkeiten von ihnen ab, und verschmilzt sie zu einer
Linie.  Das Gehoer verschmilzt die Schwingungen des Luftdrucks
zum Ton, die Laute zum Wort, und die Worte zum sinnvollen Satz.
Unsere Welt besteht aus Sachen welche regelmaessig (homogen) im
Begriffe und regelmaessig (homogen) in der Erscheinung sind.
Diese Homogenitaet besteht aber nicht in der Natur.  Sie ist vom
menschlichen Geist erzeugt und wird auf die Dinge in der Welt
projiziert.  Sie ist die Vorbedingung unseres Begreifens.  Auch
die Namen welche wir den Dingen und den Menschen geben sind
Stempel begrifflicher Gleichartigkeit (Homogeneitaet), bezeichnen
idealisierte Vorstellungen, bezeichnen also Ideale.

     Das Ideal mag als die Schnittstelle von Ich und Welt erkannt
werden, die Grenze an welcher unser Wahrnehmungsvermoegen und die
Natur sich treffen.  Die idealen Formen, e.g. Punkt, Linie,
Kreis, Flaeche, u.s.w., haften, entsprechend unserem
Wahrnehmungsvermoegen, allen Gestalten an die wir erblicken oder
anderweitig wahrnehmen.  Zugleich bieten ideale Formen einen
aesthetischen Genuss und dienen als Grundlage unseres
Schoenheitserlebnisses.

     Ich betrachte die Idee oder das Ideal vorerst als eine
Funktion des Erkenntnisvermoegens.  Die aesthetische Bewertung
des Ideelen ist Folge und Ausdruck seines Erkenntniswertes.  Mag
sein, dass in vergleichbarer Weise die ethische Bewertung des
Ideelen eine Reflexion seiner begrifflichen Bedeutung ist.
Vielleicht war es eine Eigenart des griechischen Geistes, dass
fuer ihn der ethische Bereich des Guten in den aesthetischen
Bereich des Schoenen hinuebergreift, und dass dementsprechend das
Gute, das von der Handlung angestrebte Wertvolle, gleichfalls als
Ideal erscheint.  Die Beziehung der formellen zur inhaltlichen
Beschaffenheit des ethischen Ideals gedenke ich anderen Ortes zu
behandeln.

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