19970102.03
Eben weil sie so stark subjektiv gepraegt ist. bietet die
Gotteserkenntnis des Einzelnen ein treffendes Beispiel fuer
Erkenntnisvorgaenge ueberhaupt. Wir neigen naemlich dazu, zu
uebersehen, wie vergleichbar stark andere Erkenntisse, auch die
vermeintlich sachlichsten und objektivsten in aehnlicher Weise
von der Eigenart des erkennenden Individuums (also subjektiv)
bedingt sind. Es geht keineswegs um die Behauptung, das die
vermeintliche Erkenntnis des Goettlichen, das Sehen Gottes,
moeglicherweise sogar "von Angesicht zu Angesicht", die letzte,
die ultimate Wahrheit ist. Auch will ich nicht behaupten dass
die vermeintliche Erkenntnis des Goettlichen qualitativ von der
vermeintlichen Erkenntnis des Menschlichen ununterschieden ist.
Es ist aber jenseits moeglichen Leugnens, dass beide, die
mutmassliche Erkenntnis des Goettlichen und die mutmassliche
Erkenntnis des Nicht-goettlichen, ihre Wurzeln, - oder ihre
Zweige - wie immer man will, im Wesen des Menschengeistes haben;
dass beide, Erkenntis des Goettlichen und Erkenntnis des Nicht-
goettlichen psychologische Erklaerung im urspruenglichsten Sinne
des Wortes Psychologie erfordern; und dass der Anspruch das
Goettliche zu erkennen uns viel ueber den Anspruch das Nicht-
goettliche zu erkennen zu lehren mag, und umgekehrt.
Die Gotteserkenntnis hat ja auch, wie das uebliche
wissenschaftliche Wissen, ihren Ansatz in der gesellschaftlichen
Anregung. Die Kinder werden ueber die gelaeufige
Gottesvorstellung belehrt die Erwachsenen ueben sich in ihr.
Bedeutsam fuer den Einzelnen aber wird dieses Erlebnis erst durch
ein inneres Beduerfnis, durch ein Bewusstsein der Notwendigkeit.
Es ist dies Bewusstsein, und nicht die vorgeschriebene Lehre,
welche der Gotteserkenntnis ihre Bedeutsamkeit, ihre Macht
verleiht.
Vergleichbar ist es dann mit dem Wissen um die Welt, mit dem
Wissen um die Vergangenheit. Auch solches Wissen wird dem
Menschen in gesellschaftsbedingter Gestalt (Formulierung)
vorgelegt, und auch dies Wissen wird ihm erst durch eigene
Einfuehlung bedeutsam und lebendig. Ein Unterschied zwischen dem
Wissen der Natur- und dem Wissen der Geisteswissenschaften ist,
dass im Falle der Geisteswissenschaften dem Gemuet und der
Phantasie des Einzelnen ein weiter Spielraum bleibt, darin die
Vervollkomnung und Aneignung des nur provisorisch schematisch
vorgeschlagenen Wissen vor sich gehen mag; waehrend die
Naturwissenschaften eine strenge Anpassung an das vorgeschriebene
Schema fordern. Die Folge dieser Strenge ist, dass in den
Naturwissenschaften, alle Beteiligten, alle Eingeweihten, wie
Mitglieder eines grossen Chors, dasselbe Lied, dieselbe Melodie,
wenn nicht gar unisono, dieselben Noten singen. Diese erzogene,
erzwungene Uebereinstimmung der verschiedensten Gemueter
verursacht eine Zusammenarbeit, eine Kooperation der Geister, und
es ist diese Kooperation welche die moderne Wissenschaft, die
moderne Technik, und damit die moderne Welt ermoeglicht. Und
doch, ungeachtet seiner gesellschaftlichen Uebermacht oder
vielleich sogar deretwegen, entbehrt die Wissenschaft der
scheinbaren oder wirklichen Erbaulichkeit welche dem inwendig
erzeugten Wissen anhaftet.
In der vermeintlichen Erkenntnis des Goettlichen,
andererseits, versagt dies Unisono, die Gleichstimmigkeit welche
fuer den naturwissenschaftlichen Chor so bezeichnend ist. Die
Meditation ueber das Goettliche trennt den Menschen von seinen
Genossen, vereinsamt ihn, stoesst ihn auf sich selbst zurueck,
und verleiht seinem diesbezueglichen Erleben eine besondere Kraft
und eine besondere Wuerde, welche den gemeinschaftlichen
wissenschaftlichen Bemuehungen entgehen.
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