19970708.00
Notizen zur Erklaerung der Geschichte
Samtidighed: dieser in Kierkegaard's Einuebung im
Christentum so reichlich verwendete Ausdruck bedeutet
Gleichzeitigkeit, und ins besondere die Gleichzeitigkeit mit
Jesus Christus welche von Kierkegaard als die Bedingung des
Christseins vorausgesetzt wird. Doch je mehr ich diesen Ausdruck
ueberdenke umso weniger weisz ich, wie ich davon halten soll.
Woertlich genommen, gleichzeitig mit Christus waren die
Pharisaeer und Schriftgelehrten, die elf Juenger die in
Gethsemane von ihm flohen, waren Pontius Pilatus und Caiphas. Was
bedarf es da noch weiterer Komilitonen in der Lage der
Gleichzeitigkeit?
Was Kierkegaard meinte war wohl etwas anderes. In der
Geschichte untergehen heiszt mit und mit vergessen zu werden;
heiszt zuletzt in Vergessenheit untergegangen zu sein. Damit wir
Jesus nicht vergaessen, sollten wir gleichzeitig mit ihm werden.
Ich finde diese Feststellung uebermaessig vereinfacht. Ist es
nicht manchmal der Fall, dasz wir gegen das Gegenwaertige
abgestumpft, empfindungslos sind, statt dessen aber vom Zauber
der Vergangenheit gefesselt, von der Erwartung der Zukunft
angespornt? Entspringt nicht die Vergangenheit aus dem Inneren
des Menschen? Entspricht nicht die Vergangenheit dem Inneren des
Menschen? Waehrend ihm die Gleichzeitigkeit immer neue
Forderungen stellt die von Auszen kommen? Die Erinnerung ist
unvermeidlicherweise Ausdruck des Verinnerlichten. Wird nicht
die Vergangenheit, die Geschichte, stets von Innen heraus
erzaehlt? Denn um gueltig zu sein musz jede Geschichte, eh sie,
oder allenfalls indem sie erzaehlt wird, empfunden, gefuehlt,
erlebt, und so ein Ausdruck des eigenen Erlebens werden.
Vielleicht meinte Kierkegaard mit Samtidighed eine solche
Vergegenwaertigung des Vergangenen; moeglich dann, dasz seine
Ausdrucksweise nicht die treffendste war.
Dazu noch eine sehr gewichtige Betrachtung: die Romantik in
welcher Kierkegaards Erleben wurzelt war eine Epoche emsiger
Geschichtsschreiberei. Die Geschichte niederzuschreiben aber
besagt die Vorstellung einer objektiven, allen Lesern gleich
bedeutsame Darstellung des Vergangenen. Das Geschichtsschreiben
scheint die Vergangenheit zu einem Gegenstand zu machen, zu einer
allen Lesern unmittelbar greifbaren Wirklichkeit. Diese Deutung
der niedergeschriebenen Geschichte bezeugt aber ein
Miszverstaendnis. Geschriebene Geschichte ist Literatur wie
jedes andere Geschriebene, und bedarf von Seiten des Lesers des
Verstaendnisses, der Einfuehlung, der Deutung um sinnvoll zu
werden. Zugegeben dasz eine primitive oberflaechliche und
gedankenlose Historiographie den Anspruch erhebt eine eindeutige,
sachliche, gegenstaendliche Beschreibung der Vergangenheit zu
liefern. Aber dieser Anspruch erweist sich als hinfaellig sobald
man ihn naeher betrachtet und tiefer bedenkt. Was dargeboten
(bewirkt) wird ist keineswegs das eindeutig gueltige
Geschichtsbild, sondern vom anmassenden Schriftstueck
abgestumpfte und eingeschuechterte Leser deren Gemueter einen
oberflaechlichen und entsprechend unbedeutenden Vortrag
widerspiegeln, einen Vortrag der mit der Wirklichkeit die er
darzustellen vorgibt, herzlich wenig zu tun hat. Wird die
niedergeschriebene Geschichte vom Leser verstanden, so gestaltet
sich dieses Verstaendnis so individualisert als haette jeder
einzelne Leser das urspruengliche Geschehen worueber die
Geschichte berichtet selbst miterlebt; und damit schwindet dann
auch jeglicher Schein von Objektivitaet.
Aber die Vorstellung der Gleichzeitigkeit laeszt sich denn
auch noch anders erklaeren. Wenn man das Gegenwartsbewusztsein
sorgfaeltig betrachtet, so erkennt man einen gruendlichen
Unterschied zwischen dem aktiven, handelnden Bewusztsein, dem
stets gegenwaertigen, (denn kein Mensch vermag in der
Vergangenheit oder in der Zukunft zu handeln. Die Handlung
bestimmt ihrem Wesen nach stets Gegenwart; Es ist unvorstellbar
dasz ich etwas vorhin oder nachher tue. Was immer ich tue, tue
ich in der Gegenwart, jetzt.) und dem passiven Bewusztsein, das
unvermeidlich ein Bewusztsein der Vergangenheit ist, weil das
sich bewuszt werden Zeit in Anspruch nimmt, weshalb das dessen
man sich bewuszt wird stets in naeherer oder fernerer
Vergangenheit liegt. Ein Beispiel macht dies anschaulich. Ein
Mensch ist einem lauten Knall ausgesetzt. Kurz, oder unmittelbar
nachdem der Laut ihm ins Gemuet dringt, zuckt er, reflexiv,
zusammen. Es dauert dann aber nach dem reflexinen Zucken eine
spuerbare Weile, eh er den Knall "hoert". Den Knall "hoert" er
erst eine spuerbare Weile nach dem Zucken, wenn der bestimmende
Augenblick laengst zurueck liegt, also unbestreitbar in der
Vergangenheit. Darum ist alles Erleben von Geschehenem, Erleben
eines schon Vergangenen, und die Beschreibung jedes Vergangenen
ist Geschichte. Das Gegenwartserleben entsteht aus der
Antizipation der Handlung. Bewuszt bin ich mir des Vorgefuehls,
dasz ich sogleich etwas tun werde, dasz ich dabei (bereit) bin
etwas zu tun. Es gibt eine Erwartung, eine Antizipation der
koerplichen oder der geistigen Anstrengung. Dann wieder bin ich
mir, rueckwaertserlebend, bewuszt etwas getan zu haben. Zwischen
der Antizipation des Zukuenftigen und der Erinnerung des
Gewesenen, eingerahmt und eingeklammert, dem Menschengeiste
unmittelbar und doch unerreichbar liegt die Gegenwart.
Eine weitere Deutung der Vorstellung von Gleichzeitigkeit
laeszt die mathematische, die unerreichbare, Gegenwart gaenzlich
unbetrachtet (auszer acht). Der Begriff Gleichzeitigkeit bezoege
sich dann auf die juengste (most recent) Vergangenheit. Dieser
Begriff der juengsten Gegenwart ist unvermeidlich relativ, Er
verhaelt sich zur Gegenwart nicht in mechanisch arithmetischer
Weise. Es ist ein seelisches Verhalten das die naeheren mit den
ferneren Vergangenheiten zugleich verbindet und doch diese von
jenen unterscheidet. Der Unterschied zwischen Gleichzeitigkeit
und Vergangenheit waere dementsprechend nicht ein physikalischer,
sondern ein psychischer. Gegenwaertig, also gleichzeitig, waere
das worauf ich reagiere, was meine jetzige, gegenwaertige
Handlung veranlaszt oder beeinfluszt. In der Vergangenheit
hingegen liegt was abgetan ist, was uns nicht mehr bekuemmert,
was wir kaum noch erinnern, was uns zu keinen Handlungen mehr
bewegt. Wenn Kierkegaard dann von der Gleichzeitigkeit schreibt,
so muss verstanden werden: die Erinnerung die gleichzeitig ist
weil sie uns zu Handlungen bewegt.
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Es gibt fuer die Untersuchung der Geschichte nur einen
Ausgangspunkt, nur eine Quelle, und die ist das unmittelbare
gegenwaertige Bewusztsein des Einzelnen. Die Voraussetzung einer
gueltigen verstaendlichen, sinnvollen Theorie der Geschichte ist
eine gewisse Aehnlichkeit, (Identitaet ist keineswegs
Voraussetzung,) der Denk und Gefuehlsweisen der in Betracht
kommenden an dem Geschichtsverstaendnis beteiligten Menschen.
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