19970904.00
Der Begriff des Einzelnen, hiin enkelte, spielt nicht nur
eine sehr bedeutende Rolle in Kierkegaards Denken. Es ist auch
der Begriff welcher in tieferem Sinne als irgend ein anderer den
Einflusz der kierkegaardschen Philosophie auf unser Denken
zusammenfaszt. Die Forderung welche Kierkegaard stellt ist in
sich zu gehen, ein Einzelner zu werden, wie er sagt, und er setzt
diesen Vorgang dem Christwerden, der Erloesung, und der ewigen
Glueckseligkeit gleich.
Er gibt ohne weiteres zu, ja er behauptet dasz dieses
Sichselbstwerden eine grosze und schwierige Aufgabe ist; und er
ruegt diejenigen, welche den Standpunkt vertreten, es sei eine
Kleinigkeit, ohne weitere Bedenken zu erledigen, und tatsaechlich
schon erledigt: aber eine Begruendung fuer diese Schwierigkeit,
aber weshalb es dermaszen schwierig ist, habe ich in den mir
bekannten Schriften, nicht gefunden.
Es bedarf aber, wie mir scheint, nur eine fluechtige
Ueberlegung um auf den Widerspruch zu stoszen, der in der Annahme
liegt, dasz der Mensch ueberhaupt faehig ist ein Einzelner, "hiin
enkelte" zu sein. Hat nicht schon Aristoteles festgestellt, dasz
der Mensch ein Gesellschaftswesen ist; dasz die
Selbstgenuegsamkeit nur einem Gotte oder einem Tiere frommt.
Einem Gotte ganz bestimmt. Dem Tier sollte ich meinen nur auf
beschraenkte Weise. Aber die moegliche Selbstgenuegsamkeit des
Tieres soll uns hier nicht bekuemmern.
Dasz der Mensch in seinem biologischen, naturhaften in die
Welt kommen nicht selbstgenuegsam ist, dasz er dessen Zeugung dem
Kongresz zwei anderer Wesen folgt, dasz er waehrend seiner
Kindheit auf seine Eltern oder deren Stellvertreter fuer Schutz
und Nahrung angewiesen ist; dasz er ohne diese Fuersorge in
wenigen Tagen, wenn nicht gar Stunden verelenden wuerde, das ist
so selbstverstaendlich, dasz es eine Peinlichkeit ist es auch nur
anzufuehren. Aber in dem gemeinten Zusammenhang ist es vielleicht
von noch groeszerer Wichtigkeit zu bemerken, dasz des Menschen
Geist, -oder wenn man objektiv-wissenschaftlich zu reden
wuenscht, sein Gehirn oder sein zentrales Nervensystem, in seiner
Entwicklung auch unbedingt vom Reiz und Anregung der menschlichen
Umwelt abhaengig ist. Es geht also nicht an anzunehmen, ein Kind
vom Vater gezeugt, von der Mutter geboren, von beiden bis zu
seiner Reife beschuetzt und ernaehrt, vermoechte sich geistig und
seelisch in Unabhaengigkeit abgetrennt von seiner menschlichen
Umwelt, etwa in Einsamkeit, im Verlasz auf unmittelbare
goettliche Einwirkung zu entwickeln. Das geht nicht. Ich habe
nichts dagegen, dasz man Gott die Ehre und die Verantwortung fuer
die Entwicklung eines jeden Menschen zuschreibt, aber ich bestehe
darauf, dasz die Entwicklung des Menschen, von wem sie auch immer
ueberwacht sein mag, nur durch das menschliche Zusammen und
Einwirken moeglich ist und tatsaechlich zustande kommt. Die
Beispiele sind zahlreich wie die Schaetze des menschlichen
Wissens und Koennens, deren Krone wie mir scheint, die Sprache
ist; und die Sprache ins besondere ist eine Vermittlung eine
Mitteilung gegenseitingen Erlebens welche der Einzelne in
Abgeschnittenheit von anderen niemals zustande bringen kann;
welche der Einzelne, hiin enkelte, nur im Zusammenwirken mit
andere zustande bringt, enwickelt, entwirft; also nicht als
Einzelner sondern als Teil der Gesellschaft.
Und die Sprache ist nur der Anfang. Auch das begriffliche
Denken bedarf des gesellschaftlichen Austausches, Und
Kierkegaards eigene Lebensgeschichte als Schriftsteller, dies
fortwaehrende Publizieren von Buechern, obgleich sie von keinem
Gelesen wurden, dient diese Abhaengigkeit zu bestaetigen, wenn
sie ueberhaupt der Bestaetigung beduerfte.
Was zu erklaert werden bedarf ist also nicht, weshalb der
Mensch aus seiner Gesellschaft in die Einsamkeit gerettet
(gezogen) werden musz, - obgleich auch was diese Einsamkeit
bedeutet und bewirkt eine wesentliche Frage ist. Was zu erklaert
werden bedarf ist wieso es dem Menschen Beduerfnis ist, die
Gesellschaft welche ihn geboren und ernaehrt und beschuetzt und
gebildet hat, zu verlassen und in die Wueste der Einsamkeit zu
fluechten.
Ich glaube es ist tunlich dies Bestreben ganz bis an seinen
Anfang zurueck nachzuspueren, (to trace back) zurueck zur
Schoepfung des ersten Menschen, welcher dem hebraeischen Mythos
zufolge in seinem Ursprung allein als Einzelner von Gott
geschaffen wurde, und seinem Gott als Einzelner gegenueber stand.
Mit Eva dem Weibe als ein Teil von ihm; so dasz er als Einzelner
seine geistige und koerperliche Gestalt von einem Gott empfing
der ihn in des Gottes Ebenbilde schuf.
Dies scheint mir ueberaus bedeutsam: was immer der
himmelweite Unterschied zwischen dem juedischen Gott und seinem
menschlichen Geschoepf sein mag; dieser Gott ist von Anfang and
und von vorne herein der Einzelne, und die Einzelheit des
Menschen ist stets ein Spiegelbild, eine Ableitung, ein Derivat
der Einzelheit des Gottes der ihn schuf.
Es ist nun moeglich, und ich glaube es ist sehr
eintraeglich, die ganze Religionsgeschichte von Anfang an bis auf
den heutigen Tag, oder jedenfalls bis auf den Moment da
Kierkegaard sich mit seiner Kirche auseinandersetzte, - da es uns
nun einmal um Kierkegaard geht, - als Entwicklung und Variation
dieses Einen Themas der Individualisierung des Menschen zu
betrachten.
Die Beziehung des hebraeischen Gottes zu seinen Geschoepfen
ist von Anfang an eine persoenliche gewesen. Ein persoenlicher
Gott erschuf den einzelnen Menschen. Die zehn Geboten waren dann
ja auch an den Einzelnen gerichtet. Ich bin der Herr Dein Gott:
Du sollst .... Hinterher behandeln die Gesetze den Einzelnen als
Gesellschaftsmitglied. Und als der Gott zu retten erschien, kam
er auch als Einzelner zum Einzelnen. Der Glaube den er fordert
ist der Glaube des Einzelnen, und des Glaubens Bekenntnis lautet,
Ich glaube.
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Es handelt sich hier aber keineswegs um ein Entweder-Oder.
Die menschliche Natur ist veranlagt, dasz sie beider bedarf, der
Einsamkeit _und_ der Geselligkeit; und beide bestehen im
menschlichen Leben zusammen, loesen einander ab wie Systole und
Diastole, eine naturhafte Dialektik. Dem Drang der den Menschen
zur Einsamkeit zieht ist dann auch wiederum ein Drang entgegen,
der ihn zu seinen Mitmenschen treibt: auch in Kierkegaards Leben
ist dieser Drang erkennbar. Seine Muehen um die Verfasserschaft,
seine Besorgnis um die christliche Gemeinschaft, und sein
Konflikt mit seiner Kirche, sind Zeugnis davon.
Versuchsweise, und ganz provisorisch ist es vielleicht
erlaubt auf die Zeitgeschichte hinzudeuten als Erklaerung fuer
die scheinbar ausschlieszliche und vielleicht etwas uebermaeszige
Betonung welche Kierkegaard der Abtrennung von der Gesellschaft,
dem sich selbst werden zuschreibt. Kierkegarrd selbst, bei all
seiner Abweisung "welthistorischer" Gesichtspunkte, bei seiner
Abwendung von der Deutung des Daseins als Weltgeschichte, fuegt
oft genug "in vor Tid" in seine Saetze ein, so dasz auch wir,
nicht ohne Widerspruch, - not without incongruity - sagen
duerfen: in Kierkegaards Zeit oder auch in unserer Zeit.
Ich bin kein Historiker, aber ich stehe unter dem Eindruck,
dasz Kierkegaards Zeit eine Zeit bedeutender gesellschaftlicher
Verwandlungen war. Die Epoche der Industrialisierung Europas,
des Anwuchses der Riesenstaedte, des endgueltigen Verfalls der
Selbststaendigkeit unter den Handwerkern, die Zeit des
Telegraphen und der Eisenbahnen, die Zeit da Karl Marx im British
Museum sasz und gerade das Entgegengesetzte in die Welt
hinausrief: Workers Unite, you have nothing to lose but your
chains. Es war die Zeit da die oeffentliche Presse, der
Journalismus auch dem Denken der vermeintlich Gebildeten seine
Grenzen bestimmte; Es war, mit anderten Worten eine Zeit in
welcher der Fortschritt vor allem in Verkehrs und
Mitteilungsmitteln die gebildeten Klassen ihrer geistigen
Selbsttaendigkeit beraubte oder zu berauben drohte. Das
Anschwellen der Anzahl der ungebildeten Volksmasse und ihre
wachsende politsche Macht bewirkte nur eine Verschlimmerung
dieser Zustaende. Die scheinbare Vervollstaendigung und
Rationalisierung der Naturwissenschaften schien den Einzelnen
unloesbar in geistige Abhaengigkeit und Zugehoerigkeit zu
verketten. Wenig Wunder dasz Kierkegaard auf die Individualitaet
des Einzelnen, auf seine Unabhaenigkeit und Unantastbarkeit
draengte. Und die Hegelsche Philosophie, wenn ich sie recht
verstehe, die ihre Wurzeln und ihr Gepraege aus einem frueheren
Zeitalter bezog, benutzte man die neue Lage zu rechtfertigen und
zu erklaeren.
Man kann sich Zeiten vorstellen wo es anders gewesen waere.
In manchen groszen Epochen der juedischen Geschichte, in der
Knechtschaft in Aegypten, in der babylonischen Gefangenschaft kam
es auf das Volk an, nicht auf den Einzelnen. Als die Pest in
Europa wuetete, als Staedte verfielen und die Menschheit
auszusterben drohte, da erschien Gott nicht als der Widerpart des
Einzelnen als der vaterliche Beherrscher und Fuehrer seines
Volkes. Es musz wohl ein bestimmtes Wohlergehen der Menschen
sein, ein tatsaechliches Gedeihen der Gesellschaft, die dem
Menschen die Grenzen des Gesellschaftslebens vor Augen fuehrt,
und ihn bewegt, die Einsamkeit, die Innerlichkeit, die
Abgetrenntheit von der Welt zu suchen.
Und so scheint es mir, dasz es auch in unserer Zeit, in vor
Tid, ist, die Bedraengnis durch die Communio groeszer und
schwerer noch als in Kierkegaards Zeiten, weshalb uns sein Denken
denn auch so ausserordentlich passend und notwendig erscheint.
Vor allem ist da anzufuehren die immer wachsende Macht der
Organisationen, der gesellschaftlichen Korporationen, die
wachsend engere Verbindung zwischen und unter den Menschen welche
die moderne Technologie bewirkt, dasz man reich sein musz um eine
Stelle zu finden an der man einsam zu sein vermag, dasz man aus
den Groszstaedten stundenlang mit dem Auto entfliehen musz um
einen Ort zu finden wo man ohne anderen Menschen zu begegnen
einen Spaziergang machen kann ... Und obgleich das Denken und
Sprechen frei sein soll, ist der Raum in dem man zu sprechen
Gelegenheit hat so eng, dasz die Sprache fast sinnlos erscheint;
weil sehr viel geredet wird, weil jeder reden kann, - und keiner
da ist zuzuhoeren und zu verstehen.
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