19970925.00
Ich habe es fuenfzig Jahre lang aufgeschoben, Schleiermacher
zu lesen; und nun, da ich damit begonnen habe, werde ich nach und
nach ueberzeugt, nichts versaeumt zu haben. Zwar bin ich noch
nicht dazu gekommen Dilthey's Buch ueber Schleiermacher
durchzunehmen. Mag sein, dasz dieses ein unerwartetes neues
Licht auf Schleiermacher werfen moechte.
Bis jetzt aber bin ich nichts als enttaeuscht. Besonders
ergriffen hat mich die Ueberheblichkeit mit welchem das
Christentum hier von anderen Religionen besonders vom Judentum
abgesondert und ueber sie erhoeht wird. Welch ein Abfall von
Lessings Grosmuetigkeit. Und inbegriffen in all diese
theologische Rederei die Vorstellung das Erleben, das Leiden, das
Im Unrecht Sein gegenueber Gott durch glattgedrechselte Phrasen
zu ersetzen.
Das Exemplar des "Christlichen Glaubens" das ich aus Widener
entliehen habe stammt aus der philosophischen Buechersammlung von
William James; und obgleich im allgemeinen des Buches Seiten
undurchgeblaettert erscheinen, habe ich nah des Anfangs des
Buches eine Randbemerkung befunden, betreffs Schleiermachers
Besprechung einer gewissen Selbststaendigkeit unserer Natur:
"This aufhebt the complete Abhaengigkeit." (S. 38) Es ist mir
leicht vorstellbar, dasz James von der Behauptung des
"schlechthinnigen Abhaengigkeitsbewusztseins" geaergert war; dasz
er sich aber der Schleiermacherschen Autoritaet nicht zu
widersetzen vermochte, - wie ja auch Kierkegaard meinte mit
seiner Kirche kaempfen zu muessen, beides vergleichbar mit
Jameses "tongue in cheek" Befuerwoetung der Religion. Tatsache,
dasz der hergebrachte dogmatische christliche Glaube mit der
modernen Wissenschaftlichkeit - ja mit irgendeiner
Wissenschaftlichkeit unvereinbar ist.
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