19971001.00
Liebe Gertraud, lieber Bernd,
Gertrauds Postkartenbrief vom 12.8. mit dem so
ausfuehrlichen und verlockenden Bericht ueber Eure franzoesischen
Ferien liegt seit Wochen vor mir auf meinem Schreibtisch,
wiederholt gelesen und angeschaut, und mahnt mich, dasz ich Euch
laengst haette antworten sollen.
Es ist lieb von Dir, Gertraud, darum bekuemmert zu sein,
dasz Margaret und ich es versaeumen, die Landschaft Frankreichs
und seine Bauwerke in unseren Erlebniskreis einzubeziehen. Ich
erklaere meine Abneigung fremde Laender zu bereisen mit der
Tatsache, dasz ich mein Leben in einem fremden Lande durchlebt
habe, und meine Sehnsucht und meine Reiselust gilt, in den Worten
des Schubertliedes, dem Land, "das meine Sprache spricht," wobei
ich zugleich weisz, dasz dies Land nicht existiert, weder in der
Gegenwart noch in der Vergangenheit. Sicherlich ist es
bedauernswert, dasz es mir widerstrebt, ein Land zu besuchen,
dessen Sprache mir nicht gelaeufig ist. Mit fortschreitendem
Alter wird es mir zunehmend schwerer fallen Franzoesisch,
Italienisch oder Spanisch zu lernen, und darum mir wird nichts
uebrig bleiben als zu bleiben, wo ich bin. Ich erinnere mich
Kleists Worten, die er dem Prinzen Friedrich in den Mund legt:
"Ich will auf meine Gueter gehn am Rhein,
Da will ich bauen, will ich niederreiszen,
dasz mir der Schweisz herabtrieft, saeen, ernten, ...
Und wenn ich erntete von neuem saeen,
und in den Kreis herum das Leben jagen
bis es am Abend niedersinkt und stirbt."
Die Verzoegerung meiner Antwort laeszt sich erklaeren,
wenngleich nicht entschuldigen, damit, dasz ich mich in den
vergangen Wochen intensiv mit architektonischen Entwuerfen
befaszt habe, Uebungen, wovon ich ein Beispiel beilege. Mein
Sohn Klemens, naemlich, und meine Schwiegertochter haben
beschlossen, dasz ihr kleines Haus fuer zwei Erwachsene und vier
Kinder zu klein ist, und mit dem Erwachsen der Kinder noch
kleiner werden wird.
Ihr wiszt es vielleicht aus Beobachtung, wenn nicht aus
eigener Erfahrung, wie beim Bauen, besonders aber beim Umbauen
der gewohnten Wohnung, die Eigenarten der beteiligten Personen in
Erscheiung treten, oder gar sich entfalten. Unserer Familie sind
die sich ergebenden Meinungsverschiedenheiten nicht erspart
geblieben; doch scheint mir diese zu verstehen und mit einander
zu vereinbaren eine noch wesentlichere Aufgabe als der Entwurf
von Rauemen, Zimmern und Waenden.
Das Dahinschwinden meiner aerztlichen Praxis waehrt fort,
nun eigentlich schon seit so vielen Jahren, dasz ich mich wundern
musz, wie ueberhaupt noch etwas uebrig geblieben ist. Aber ein
wenig zu tun haben Margaret und ich noch immer, und ein
Nebenverdienst meiner Praxis ist, dasz ich meine wenn auch sehr
bescheidene Bestallung an der Universitaet und damit den Zugang
zu allen ihren Bibliotheken beibehalte.
Seit einigen Wochen lese ich in Schleiermachers Schriften.
Dasz mich die gepriesene Begeisterung ergriffen haette, kann ich
nicht sagen. Auch Diltheys Erlaeuterungen, so weit ich sie
gelesen und verstanden habe, sind mir nicht ueberzeugend. Es
bereitet mir dann aber, in dialektischer Weise, eine gewisse
Genugtuung zu bedenken und zu betrachten was ich _nicht_
verstehe, bis es mir zuletzt halb - oder immer noch voellig -
unverstanden in Vergessenheit untertaucht.
In zwei Wochen fahren Margaret und ich wieder fuer etwa zehn
Tage nach Konnarock um unser Haus dort fuer den Winter
vorzubereiten. Nach einem wunderbar milden Spaetsommer scheint
bei uns nun doch der Herbst eingezogen zu sein. Es ist die
Jahreszeit die in einem Rilkegedicht, das meine Eltern sehr
liebten, gefeiert wird.
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr grosz.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lasz die Winde losz.
Befiehl den letzten Fruechten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei suedlichere Tage,
draenge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Suesze in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blaetter treiben.
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