19971022.00
Zugrunde meinem Verstaendis der Ethik liegt das Wesen des
Menschen so wie ich es im Laufe der Jahre erlebt und erkannt
habe. Was dem Menschen wertvoll erscheint, was zu tun ihm
geboten ist, und was zu tun ihm verboten ist, das alles wird mir
letzten Endes verstaendlich aus seinem Wesen; aus einer
Betrachtung dessen das er ist.
Offensichtlich laeszt sich dieser Satz umkehren. Man
koennte behaupten das Wesen des Menschen abzuleiten von dem, was
ihm geboten ist zu tun und zu lassen. Die Darlegung dieser sich
widerstrebenden Erkenntnismethoden hat allenfalls den Vorzug,
dasz er eine Erklaerung bietet, wie und wodurch die groszen
Meinungsverschiedenheiten, welche die Geschichte des Denkens
bezeichnen, entstanden sind, und wodurch sie immer aufs neue
entstehen.
Zweierlei naemlich, erstens die Unterschiede zwischen den
Gemuetern der Menschen, ihrer Verstaendnisfaehigkeit, ihren
analytischen Faehigkeiten; die Unterschiede des zum Teil
aeuszerlich, zum Teil innerlich bedingten Sprachvermoegens. Da
ist es nicht zu verwundern, dasz viele verschiedene Menschen zu
vielen verschiedenen Anschauungen und zu vielen verschiedenen
Begriffsschlueszen geraten.
Als eine Folge dieser angeborenen und anerzogenen
Unterschiede ist es wohl auch zu erklaeren, dasz manche, im
Gegensatz zu mir, beanspruchen das Wesen und die Pflichten des
Menschen von Begriffen abzuleiten, am Ende, von dem was sie Gott
nennen. Dagegen frage ich, wo haben sie diese Begriffe her, von
wo und wie ist ihnen diese Goettlichkeit auf die sie sich
verlassen eingegeben? Waehrend diese Gottheit, die all ihr
Denken und all ihr Tun rechtfertigt ihnen selbstverstaendlich
ist, so ist mir selbstverstaendlich dasz es menschliches Wesen
ist durch die diese Gottheit sich Ausdruck schafft, und deshalb
unabhaengig von diesem Menschenwesen nicht erkannt zu werden
vermag.
Es mag sein, dasz es meine medizinische Ausbildung ist und
die jahrelange medizinische Praxis die ich ausgeuebt habe, die
mich zu einer empirischen, zu einer erfahrungsgetreuen und
beobachtungsgemaeszen Erkenntnismethode bestimmen; dasz mir die
Theorie als primaere Erkenntnisquelle verdaechtig ist.
Dementsprechend ist zu unterscheiden zwischen Gott als
Theorem als Ergebnis der Theorie, und Gott als Erlebnis, als
subjektive Erfahrung. So ablehnend ich mich gegen einen von
auszen der Menschenseele aufgepfropften Gott verhalte, so
empfaenglich bin ich fuer das Erleben des Goettlichen, wie immer
es im Menschenleben erscheinen mag, und unter welchem Namen.
Eine solche anthropozentrische Betrachtungsweise hat in
erster Linie heuristischen Wert. Sie genuegt mir die erforderte
Handlung und die Werte welche diese Handlung vertritt zu
erklaeren. Der Theologe aber, welcher beflissen ist Mensch und
Welt als Ausdruck eines goettlichen Willens zu deuten, braucht
nicht verdrossen zu sein. Denn als das heuristische Mittel,
welche allein sie beansprucht zu sein, schlieszt die
anthropozentrische Betrachtungsweise eine moegliche
theozentrische als ihr uebergeordnet und sie einschlieszend
keineswegs aus. Jedoch entschudlige ich mich, dem Entwurf einer
theozentrischen Ethik nicht gewachsen zu sein, denn sie setzt
eine transzendentale Eingebung voraus welche mir nicht gewaehrt
ist.
Das wesentliche Erlebnis des Menschen ist das kurze, rasche
Aufflackern seines Bewusztseins, dasz er lebt, und dasz er vom
Sterben umringt ist, dasz er sich als einzelner empfindet, und
zugleich eine unbedingte Abhaengigkeit erlebt, nicht, wie
Schleiermacher behauptet haette, von Gott, sondern von Feuer,
Wasser, Luft und Erde, sondern von seinen Mitmenschen,
vornehmlich von seinen Eltern, von seiner Familie, von seinen
Geschwistern, von seinen Orts und Landesgenossen; tatsaechlich
von einer auf Grund neuzeitlicher Technologie sich bestaendig
ausweitenden Menschengruppe.
Die Fragen der individuellen Ethik fallen dementsprechend in
zwei Gruppen. Sie befassen sich einerseits mit der
verantwortungsvollen Handlung des Menschen sich selbst gegenueber
und andererseits mit der verantwortungsvollen Handlung des
Menschen der Gesellschaft gegenueber.
Die Fragen der gesellschaftlichen, bezw. gemeinschaftlichen
Ethik befassen sich dagegen mit der ordnungsmaeszigen
Handlungsweise der Gesellschaft dem einzelnen Anderen, dem
Naechsten im christlichen Sinne, anderen Gesellschaften, und
schlieszlich auch sich selbst als wirksamen Organismus
gegenueber. Es ist bald ersichtlich, wie dicht das Gewebe
welches sich aus dem Geflecht von Pflichten (Forderungen) bildet.
Es ist eine andere und voellig unterschiedene Frage ob die
Gesellschaft, der Staat, die Polis, (die Kirche) gleichfalls
ethischen Forderungen und Anspruechen untergeben sei. Bei einer
solchen Betrachtung faellt selbstverstaendlich alles Subjektive,
alles Erlebnis fort, denn es ist nur uneigentlich dasz sich das
persoenlich Erleben des Einzelnen objektiv vergegenstaendlichen
laeszt.
Dabei (Bei dieser Betrachtung) faellt auf, dasz die
Eingliederung des Einzelnen in die Gesellschaft, in den Chor, ins
Orchester, ins musikalische Ensemble, in das Committee, den
Ausschusz, den Kongress, die Fakultaet, die Aktiengesellschaft,
... seine Einzigartigkeit, seine Einzelheit, seine
Individualitaet nur in beschraenktem Masze beeintraechtigt; dasz
diese nur voruebergehend und provisorisch hintangestellt wird.
Wenn ein Mensch als Soldat in der Schlacht stirbt, stirbt er
wirklich nur "als Soldat", und nicht als Einzelner? Und wenn er
als Einzelner stirbt, war dann nicht sein Soldat sein eine
Beteiligung sozusagen an einem Schauspiel welche so oder anders
zu seinem Ende gelangt? Und es ist ja durchaus denkbar, dasz
dieses Schauspiel so unauffaellig, so zufaellig, so inadvertently
zu Ende geht, dasz man es garnicht merkt, dasz der Mensch nicht
unwiderbringlich zum Soldaten geworden war, sondern dasz er
sozusagen nur Soldat spielte.
Hier wieder bietet sich eine unentscheidbare Frage: Ist der
Mensch primaer, in erster Linie, grundliegend Gesellschaftswesen;
ist er also primaer Soldat, Familienmitglied, Beamter? und
bricht aus diesem gesellschaftlichen Boden (Matrix) hinundwieder
die Individualiaet, die Einzelheit, das Sichselbstsein, die
Einsamkeit des Menschen hervor?
Ist dies, was es heiszt, wie Kierkegaard sagt, ein Subjekt
zu werden? Die gesellschaftlichen Verknuepfungen zu loesen? Die
Gesellschaftsuniform abzulegen? Ist es denn moeglich ein Subjekt
zu werden, ohne dies zu tun, und dabei zugleich in die
gesellschaftlichen Verhaeltnisse verstrickt bleiben?
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