19971027.00

     Ein Hauptproblem der Ethik, wenn nicht gar das
grundlegendste und wesentlichste ist der Widerspruch, das
Paradox, zwischen dem inneren subjektiven Drang das Rechte zu
tun, und den Gesellschaftsbanden in welchen sich des Einzelnen
Vorstellungen vom "Rechten" entwickeln, die sie zum groszen Teil
bestimmen, und welche in mehr oder minder buendigem Masze den
Einzelnen zu ihrer Beachtung zwingen. Dieser Widerspruch kommt
schon in den Worten Ausdruck "Ethik" und "Moral", in so fern
diese ein gesellschaftlich annehmbares Betragen bezeichnen.
Indessen ist die Macht (die Wucht) des Ethischen, der
Einwirkungspunkt aller Handlungsregeln auf das Betragen des
Einzelnen jener Gedanken und Gefuehlsbereich den man Bewusztsein
oder Gewissen nennt.  (im Englischen enger verkuppelt als
conscience and consciousness.)  Es waere moeglich das gesammte
Unterfangen der Ethik als den Versuch zu erklaeren, diese beiden
sich gegenseitig ausschlieszenden Bereiche menschlichen Erlebens,
das Aeuszere und das Innere, jedenfalls auf dem Gebiete der
Handlung, mit einander in Einklang zu bringen.  So etwa Platons
Gespraeche ueber das Gute, als ein Versuch das Pathos (die
Leidenschaft) ethischen Erlebens objektiv gueltig, ueberzeugend
darzustellen.  Und dies scheint dann auch gewissermaszen zu
gelingen, jedoch nur voruebergehend, nur unter dem Zauberbanne
der Dichtung.  Das andere, die anderen Versuche die Ethik
darzustellen oder auszufuehren sind entweder aehnlich
dichterische Bemuehungen, welche freilich selten auch nur
annaeherend gelingen; oder aber es sind Gedankenverwirrungen die
sich aus ueberspannten Anspruechen ergeben, welche weder der
Leser noch der Verfasser logisch zu entziffern vermoegen, denen
sie Saetze, Worte, abgerissene Gedanken entleihen, welchen sie
hernach, wie Zauberworten, ihren Glauben schenken.

     Wenn man dieses scheinbar unloesbare Problem auf der
Schwelle aller ethischen Betrachtungen erkannt hat, so fragt man
sich, in wie fern es denn ueberhaupt moeglich waere, ohne es
geloest zu haben, auf dem Gebiete der Ethik irgendwelche
sinnvollen Betrachtungen anzustellen. Soll man diesen
Schwellenwiderspruch uebersehen, soll man ihn leugnen, soll man
ihn fortwuenschen?  soll man sozusagen ueber ihn hinwegspringen
und so tun als waere er nicht? Ach, ich denke, wer es eskannt
hat, dessen Denken wird durch diese Fragestellung gelaehmt sein,
dessen Denken wird Tag und Nacht darueber in einem wirren
Kreislauf nachgruebeln, ohne eine Loesung zu finden.

     Oder sollte es sein, dasz er, wie auf einer Wippe stehend,
seine Gedanken derart genau in der Schwebe, in der Balance haelt,
dasz er muehelos, fast oder tatsaechlich ohne es zu bemerken von
einem Standpunkt zum anderen hinueberzuleiten (umzustellen)
vermag. Dann waere ja diese Faehigkeit beide Gebiete, das Innere
_und_ das Aeuszere zu begreifen, wenngleich nicht die
ausdrueckliche (explicit) Loesung des Widerspruchs, so doch die
wirksame, funktionelle, praktische Loesung.

     Diese Betrachtung eroeffnet dann eine allgemeinere Loesung
des (dialektischen) Widerspruchs, so wie er etwa von Kiekegaard
gepraegt und geuebt wird; ermoeglicht ein neues Verstaendnis,
eine neue Deutung des "Selig, der sich nicht aergert (an mir)."
Diese Deutung, dasz die Seligkeit und vielleicht auch dann der
Glaube der sie bezeugt, in einer gewissen Stumpfheit und
Begrenztheit des Denkens liegen. Wie denn ja auch geschrieben
steht, Selig sind die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich
ist ihr.

     Parallel und vergleichbar mit dem Glauben als Loesung
(Erloesung) von dem Widerspruch des Bewusztseins, konstatiere ich
eine geistige Haltung welche den Widerspruch verkennt als
Grundlage und Vorbedingung geistiger und seelischer Wirksamkeit
und Produktivitaet. Aufgeloest aber wird der Widerspruch nie;
sondern er ruht da in der Krypta allen Wissens und allen
Bewusztseins. Es bleibe dahingestellt, ob zu ihm hinabzusteigen
eine Handlung ein Weg der Weisheit, der Gewissenhaftigkeit, der
Schlauheit, der Dummheit oder der Verlogenheit waere. Denn
gewiszlich kann man sich dort unten ein Leben lang aufhalten und
sich im Kreise herumbesprechen ohne etwas zu lernen, kann sich
und andere irre reden dabei.  Das sich nicht aergern, aber, wenn
man es vermag, ist die Loesung.

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