19971202.01

     Die Regel, das Gesetz, ist die problemreichste
Charakteristik der Ethik. Und die Tatsache, dasz die Ethik im
weitesten Sinne stets auf ein Gesetz hinauslaeuft ist bedenkens
und fragwuerdig.  Man kann, wenn einem ueberhaupt an Ethik
gelegen ist, nicht umhin, sich mit Gesetzmaeszigkeit und Gesetz
auseinanderzusetzen, zu verstehen woher die Gesetze stammen, wie
sich der Mensch zu ihnen verjaelt, und wohin sie fuehren.

     Die Urgesetze, den zehn Geboten, wie sie heute aus der
Uebersetzung gedeutet, sind unterschiedlich bis zur
Unkenntlichkeit; so dasz man in ihnen keinen Leitfaden, kein
Prinzip zu erkennen vermag, es sei denn dasz sie mehr auf die
Gesinnung als auf die Handlung zielen. Ausnahme scheinen zu sein
die Gebote, Du sollst nicht stehlen, ehebrechen, toeten; aber
insoweit auch diese Handelsverbote der Deutung beduerfen, oder
was auf das selbe hinausgeht, Ausnahmen zulassen, ja Ausnahmen
erfordern, so moegen auch sie als auf Gesinnung eher denn
Handlung zielend, umgedeutet werden.

     Und so beginnt die grosze, bis auf den heutigen Tag sich
erstreckende Unbestimmtheit, urspruenglich nur schattenhaft
angedeutet, umrissen, inwieweit das Gesetz die Gesinnung des
Einzelnen bestimmen und kontrollieren soll, und in wiefern das
Gesetz die Handlung des Einzelnen bestimmen soll. Nach modernem
zeitgenoessischem Recht, soll nur die Handlung strafbar sein,
nicht die Gesinnung; denn, so lautet die Rationalisierung, die
Handlung ist bestimmbar; die Gesinnung nicht.  Man vermag mit
Sicherheit zu konstatieren, dasz jemand dieses oder jenes getan
hat. Ueber seine Gesinnung, so meint man, laeszt sich schwieriger
entscheiden, wenn eine Entscheidung ueberhaupt moeglich ist.  Und
doch, trotz der Proskription (Ablehnung, Ausschlieszung) von
Gesinnungsjustiz, schleicht sich doch die Gesinnungsbewertung in
fast alle Urteilssprueche, in alle Strafverhaengnis ein. Ob
jemand des Mordes erstend grades, zweites Grades, des
Totaschlages nur, oder wegen Selbstverteidigung unschuldig
gersprochen wird am Tode des von ihm getoeteten, das sind alles
Fragen der Gesinnung, und es ist ein eklatanter (glaring)
Widerspruch zwischen der juristischen Praxis und der juristischen
Theorie.

     Die Feststellung der Gesinnung ist vornehmlich eine
Erforschung des Inneren des Menschen, welche nie einen auch nur
angehend genuegenden Grad der Bestimmtheit erreichen kann.

     Die Gesetzgebung ist eines absichtliche (Um)Gestaltung der
Lebenswelt, mit dem Ziel bestimmte Handlungsweisen zu erleichtern
(erzwingen), und andre Handlungsweisen zu erschweren oder zu
verhindern. Es ist ein berechneter Einbruch in das Gebiet des
Persoenlichen und Privaten.

     Gesetz und Freiheit sind miteinander unvereinbar. Ein
wesentliches Ziel der Jruisprudenz ist die Illusion der Freiheit
zu schaffen, oder jedenfalls zu ermoeglichen.

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