19980124.00

     Es ist nicht zu verkennen, dasz die griechische nicht
weniger als die juedisch-christliche Tradition eine Rueckfuehrung
(reductio) auf das Ich, auf das Selbst verlangt, inbegriffen
also, eine Losloesung von der Gesellschaft.

     Die Grundlage (Basis) alles Urteilens, wenn nicht gar
jeglicher Denktaetigkeit ueberhaupt, ist nicht nur des Menschen
Bewusztsein seiner selbst, sondern sein Wissen um sein Selbst, um
sich selbst, um sein Ich.

     Das sokratische Erkenne dich Selbst ist insofern mit der
christlichen Verinnerlichung vergleichbar, als diese die
Veraeuszerlichung des Seelenlebens welche die Gesetzeskultur
bewirkt hatte, rueckgaengig macht, und den Menschen zurueck zu
sich selbst in seine Gottesbeziehung und in seine
Gotteseinsamkeit zurueckfuehrt. Die Bedeutung der Erscheinung
Christi im Seelenleben hat ihre Parallele in der Bedeutung des
Auftreten des Sokrates im Geistesleben.

     Es musz vorerst dahingestellt bleiben, inwiefern die
sokratische Hinwendung auf das eigene Ich mehr als eine
Abwandlung der Forschungsrichtung bedeutet, (is more than a turn
in the direction of thought) ob es eine tatsaechliche Wandlung in
der Art des Denkens besagt.  (whether it is indicative of an
actual change in the quality of thought.)  Ich meine, ob der Sinn
des Erkenne Dich selbst auf eine gueltigere Erkenntnis dieses
Selbsts absieht; oder ob die Absicht dieser Mahnung ein
Umschwenken des Erkenntnisprozesses auf das Innere besagt.  Ob
die Mahnung den Menschen beauftragt, eine vollkommenere Kenntnis
seiner selbst zu erstreben, - denn inwiefern das Bestreben
erfolgreich waere musz dahingestellt bleiben, - oder ob die
Mahnung den Menschen beauftragt, mit seinen Erkenntnisversuchen
auf sich selbst zu zielen, ungeachtet ob diese Versuche auch nur
im Geringsten erfolgreich sein moechten.

     Man frage sich dann auch, ob eine Betrachtungsweise welche
zwischen Denkungsart und Forschungsziel zu unterscheiden
beansprucht, ueberhaupt ernst zu nehmen ist.  Sollte denn nicht
alles Forschen ein Denken sein, und alles Denken ein Forschen?
Ist es vorstellbar, dasz das Denken unabhaengig von seinem Ziel
waere?

     Jedenfalls fuszt seither alles kritische Denken im
Bewusztsein des eigenen Ich, und wird immer wieder zum Ich
zurueck verwiesen um sich dort zu bekraeftigen und zu
orientieren.

     Andererseits laeszt sich die gewichtige Vorstellung des
gesunden Menschenverstandes, des Common Sense, als Pruefstein
(Probierstein) des Wirklichen, des Wahren, nicht aufrecht
erhalten.  Nicht nur aendert sich, was als Common Sense
betrachtet sein moechte im Laufe von Jahren Monaten oder auch nur
Tagen, aber was heute, diestaegig, an diesem Tage, als Common
Sense gelten soll, kann nur willkuerlich bestimmt werden.  Je
beschraenkter der Horizont eines Menschen desto sicherer und
selbstverstaendlicher ist ihm der Begriff Common Sense.  Und umso
unbedenklicher ist es ihm seine jeweilige Voreingenommenheit als
Common Sense zu bestaetigen.

     Wiederum aber scheint der Mensch in aller Subjektivitaet,
bei aller Ich-Bezogenheit, der gesellschaftlichen Bestaetigung
und dem Masz des gesunden Menschenverstandes, dem Common Sense,
nicht entbehren zu koennen.  Aus dieser Unfaehigkeit des Geistes
sich einerseits auf sich selbst, sich andererseits auf das
Allgemeine zu verlassen, entsteht eine dynamische Dialektik, ein
ruheloses Hin und Her, und in diesem besteht die Geschichte des
Denkens so weit wir sie zu begreifen vermoegen: ein Hin und Her
zwischen Selbst und Gesellschaft, eine Debatte wo der Beredsame
sich seiner Beredsamkeit ziert, ohne dasz es der Beredtsamkeit
jemals gelaenge die Frage ueber welche sie redet aufzuklaeren.

     Es ist aber auch moeglich die Dialektik die sich aus der
Doppelwertigkeit des Erlebens einerseits als privates,
andererseits als oeffentliches ergibt anders zu erklaren: statt
als Ausdruck der Zweideutigkeit des Gegebenen, als Folge des
Mangels (der Unfaehigkeit, Unzulaenglichkeit) unserer Begriffe
der Wirklichkeit zu genuegen; so dasz vernuenftiger Weise die
Unzulaenglichkeit nicht in dem Geschehen das verstanden werden
soll zu suchen ist sondern in den geistigen Mitteln (Werkzeugen)
mittels derer dieses Verstaendnis zustande kommt.

     Man versuche es jedenfalls, bei den Betrachungen ueber Welt
und Ich klar im Auge zu behalten, dasz denkbarerweise die
Unzulaenglichkeit des Begreifens weder bei der Beschaffenheit des
Ich noch bei der Beschaffenheit der Welt zu suchen ist, sondern
beim Instrumentar des Begreifens oder vielleicht bei dessen
Anwendung.  Die Philosophie ist ein fortwaeherendes Ringen um
Verstaendnis.  Sicherlich ist es sinnvoll, anstatt sich im Geist
unbesonnen fort und fort zu baeumen und zu winden, zu bedenken
was es denn ist, worum und wonach man strebt.

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