19980212.00

     Das Wesen der Geschichte ist deren Entwicklung aus dem
Gedaechtnis.  Insofern die Geschichte sich auf Dokumente stuetzt,
ist sie nicht mehr Geschichte.  Insofern die Geschichte ein
Dokument ist, wie etwa ein Aufsatz oder sonstige Abhandlung, ist
sie weder Daseiendes noch lebendige Erzaehlung sondern sie ist
Literatur, zwar als Niedergeschriebenes ein Bleibendes, und als
Bleibendes in den Bereich des Daseienden gerueckt, bleibt aber
sinnlos ohne gelesen und gedeutet zu werden, und ist immer erneut
der Deutung, des Lesens, des Verstehens beduerftig, wobei es eine
irrtuemlich Annahme ist, dasz mit dem Lesen, mit der Deutung, mit
dem Verstaendnis etwas Eindeutiges konstatiert werden moechte,
denn das Lesen ist nicht weniger ungebunden als das Denken; und
wie man heute so und morgen anders denkt, sind auch das Lesen und
dessen Ergebnisse unbestaendig.

     Die Geschichte ist eine Zusammensetzung. Sie besteht in
groszem Masze in der Wiederholung, in der sachlich unbegruendeten
Bestaetigung niedergeschriebener Berichte.  Nur eine sehr
geringen Teil dessen was der Geschichtsschreiber berichtet vermag
er aus eigener Beobachtung aus eigenem Erleben mitzuteilen.  Fast
alles ist uebernommen, aus zweiter Hand.  Einzig die Urkunden und
die Dokumente ermoeglichen es eigene Schluesse zu ziehen, und
dies nur in beschraenktem Sinn insofern auch ihre Deutung von
ueberlieferten Erklaerungen abhaengig ist.

     Das Wesen der Geschichte aber ist und bleibt die Erzaehlung
als eine Gegenwartstaetigkeit bei welcher das Alte, das
Vergangene, das fast Vergessene durch muendliche Wiederholung neu
belebt und vergegenwaertigt wird. Und dies ist der Fall wie
anspruchsvoll verwickelt die Geschichte, in wieviele Einzelheiten
sich ergehend der Historiker auch auftreten mag.  Darum wird es
bei aller Selbsttaeuschung dem Bistoriker, dem der die Geschichte
erzaehlt, nie gelingen den engen Kreis seines Jetztbewusztseins
zu durchbrechen.  Die Wirkung, die wirksamkeit der Geschichte
musz deshalb auf Taeuschung beruhen, auf der Taeuschung naemlich,
dasz mittels der wortlichen Darstellung die Wirklichkeit des
Vergangegen erreichbar wuerde.  Dies ist aber keines wegs der
Fall.  Was die Geschichte bewirkt ist kein Wiederaufbau, ist
keine Rekonstruktion des Vergangenen; sie bewirkt statt dessen
eine unscheinbare Abwandlung des Geistes.

     Ob in seinem Ursprung, im Urstadium seiner Entwicklung, des
Menschen Geist mit einem unbeschriebenen Blatt, mit einer Tabula
Rasa vergleichbar waere, braucht hier nicht entschieden zu
werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dasz in dem Stadium der
Entwicklung wo er Geschichte erzaehlt, oder liest, oder erfindet,
sein Geist ein wohlgestaltetes Gefuege von latenten Bildern,
Begriffen, Vorstellungen ist; ein Gefuege das seine Eltern, seine
Lehrer, und gewissermaszen auch der Mensch selbst mit Vorbedacht
und mit Absicht so gestaltet haben.  Das Aufnehmen von
Geschichten und von Geschichte bewirkt jeweils tiefgruendige
Verwandlungen in diesem schon gestalteten Gemuet; und es ist auf
der durch die Geschichte bewirkte Metmorphose des Geistes, nicht
durch das eingebildete Ergreifen einer unerreichbaren
Vergangenheit das die Wirkung und Wirksamkeit der Geschichte
beruht.

     Es ist ja so offenbar (obvious) offensichtlich augenfaellig,
wie die Geschichte im Gesellschaftsmilieu wirkt. Man stelle sich
eine Schulklasse von Kindern vor, die alle dasselbe Gedicht, die
alle dasselbe Lied auswendig lernten, und es nun im Chor
aufsagen. Heiszt der entzueckende, bezaubernde Gleichlaut, dasz
die Botschaft (message) des Liedes, oder der Inhalt des Gedchtes
des halb "wahr" ist.  Steht es nicht gerade genauso um die
griechischen Mythen; dasz huntertausende von Menschen sich die
Legenden von Zeus und Hera, von Apollo und Athena, von Diana und
Aphrodite erzaehlt und wieder erzaehlt, sind sie dadurch wahr
geworden, so wahr wie die der Geliebten unvergeszliche Umarmung
in einer mondbeschienen Liebesnacht?  Und doch, hat nicht dieser
Katechismus, dies Katechein, dieses Widerhallen der erzaehlten
Vorstellungen in den Gemuetern der Hoerer sie wahr gemacht?  Und
ist es ungerecht darauf hinzuweisen, dasz in bestimmter Weise
auch der juedisch-chistliche Katechismus die  Erzaehlungen von
der Schoepfung, von Noahs Arche und Abrahams Reise zum
Moriahberge, von der jungfraeulichen Geburt in Bethlehem, von der
Speisung der  Tausende, von den Gerichten des Kaiphas und Pilatus
von der Kreuzigung und von der Auferstehung wahr gemacht haben?

     Vorgehendes deutet die religioese Ueberlieferung als Muster
fuer die Geschichte.  im Gegensatz zu Kierkegaard's Hypothese
eines unbedingten Unterschiedes zwischen historischer
Vergangenheit und religoeser Gleichzeitigkeit.  Jedes ernste und
ehrliche Geschichtsbewusztsein ist ein gegenwaertiges; summons
the past onto the stage of present consciousness where it become
no less vivid than the most contemporary of experiences.  Aber
die notwendige und unvermeidliche Gleichzeitigkeit des
Geschichstbewusztseins, welches das Vergangene Geschehen in ein
Gegenwaertiges verwandelt, beschraenkt damit dessen objektive
Gueltigkeit, in derselben Wendung in welcher es die subjektive,
inwendige Gueltigkeit des vergangenen etabliert.  Das relioese
Vergangenheitsbewusztsein ist Muster fuer das
Geschichtsbewusztsein ueberhaupt.

     So erweist (entpuppt) sich der (religioese) Glaube als
Vorbild, als Prototyp des geschichtlichen Wirklichkeitsglaubens
ueberhaupt.  Ich denke in vergleichbarer Weise aufzuzeigen (zu
demonstrieren) dasz der religioese Wirklichkeitssinn der Prototyp
des praktischen (technischen, wissenschaftlichen)
Wirklichkeitssinnes ist.  Ich tue dies nicht in der Absicht das
religioese Erleben des Menschen zu preisen oder abzuschaetzen.
Ich tue es aus der Einsicht, dasz das religioese Erleben ein
Urausdrueck des Menschenwesens ist, und dasz es als solches den
Schluessel zu vielerlei unbeantworteten ethischen und
erkenntnistheoretischen Fragen darstellt.

     Wenn ich in derartiger Weise das religioese Erleben als
Wurzel ins zentrum erkenntnistheoretischer und ethischer
Ueberlegungen stelle, so liegt es mir ob, daraufhinzuweisen, dasz
ich mit religioesem Erleben anderes meine als die kirchliche
Organisation und Exhibition welches der allgemeinen oeffentlichen
Ansicht gemaesz der buendige Ausdruck religoesen Erlebens ist.
Wie sich die Kirchen zum religoesen Erleben verhalten ist ein
Thema das anderenortes genauerer Betrachtung bedarf.

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