19980303.00

     Es besteht fuer mich kein Zweifel, dasz die
gesellschaftliche Existenz des Einzelnen stets auf Kompromisz
beruht. Es ist ein Vergleich von dem, was das Bewusztsein seiner
selbst, die Subjektivitaet also, fordert, und was das
Gesellschaftsleben verlangt.  Dies Kompromiss, dieser Vergleich
gestaltet die Erkenntnis nicht weniger als die Ethik, bestimmt
das Erkennen nicht weniger als das Handeln.  Der Vergleich ist
Folge und Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Welt.  Diese
Spannung besagt nicht nur Hindernisse tief eingewurzelt im Wesen
des Menschseins, cwsie besagt auch Antrieb: denn aus ihr
entspringt die Kraft welche das Geistesleben gestaltet.
Verbildlicht traegt diese Kraft den Namen Gott.  Beide, die
christliche Glaubenlehre und die moderne Wissenschaft, lassen
sich als Ausdruck der Spannung zwischen Welt und Ich erklaeren.

     Diese radikale Rueckfuehrung (Reduktion) weiter
Erlebnisgebiete erinnert an die groszen Vereinfachungen
(simplifications) der Vorsokratiker; wie etwa die Erklaerung der
Welt aus den vier Elementen, als Einheit oder Vielheit, als
Bewegung oder Ruhe. Die Erklaerung der von mir angefuehrten
Problematik als Ausdruck eines Streites zwischen Welt und Ich,
zwischen Kaiser und Gott, wird unvermeidlich aehnlichen
Beschraenkungen unterliegen.  Wie im Falle der Vorsokratiker, so
sind die Ergebnisse des Denkens mit taeuschender Einfalt
behaftet.  Diese Ergebnisse sind letzten Endes nur Worte, sind
Worte denen der Einzelne der ueber sie nachsinnt, Inhalt,
Bedeutung, Ausmasz und Gewicht verleihen musz.

     Das schoepferische Lesen ist unentbehrlich.  Der Text ist
stets nur eine Vorlage, wie ein Notenblatt das laengst noch nicht
Musik ist, das aber dem Kuenstler als Vorschrift zum Musizieren
dient.  Das Gewicht musz stets wie im angefuehrten Beispiel auf
das Musizieren, auf das Denken fallen.  Welche Begriffe auch
immer dazu dienen moegen, das Denken zu ermoeglichen, sind
zweitrangug.  Sie lassen sich durch andere ersetzen, obgleich ich
in diesem Moment keine anderen zu nennen vermoechte.  Auch musz
die Zahl der Begriffe auf welchen das Denkgeruest errichtet wird,
unbestimmt bleiben.  Das beeinfluszt zwar die Dynamik des
Denkens, kaum aber seinen Inhalt.  Das Denken in Widerspruechen,
die Dialektik, hat den Vorteil, dasz sie die innere Bewegung der
Gedanken nicht nur ermoeglicht sondern erfordert, und damit
dieser Bewegung einen wirkungsvollen Rahmen bietet.  Bei
vermehrten Anhaltspunkten zerstreuen sich die Gedanken und
schweifen in unvoraussehbare Weiten.

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