19980713.01

     Es ist ein Miszverstaendnis vorauszusetzen, dasz die
muendliche oder schriftliche Darlegung des Begriffenen, bezw.
Erkannten, hinreichte um dies Erkannte ein und fuer alle Mal, wie
einen mathematischen Lehrsatz festzustellen, einen Lehrsatz der
danach als unabaenderliches Teil Geistesgut ueberliefert und
bedeutet wird; allen geistig bemittelten Menschen zugaenglich und
von ihnen angeeignet wird.

     Ich gebe zu, dasz eine solche Ueberlieferung der Denkformeln
vorstellbar ist. Wir besizten ja in der Sprachueberlieferung ein
ueberzeugenden Muster eines solchen Vorganges.  Und doch mag
ausgerechnet das Lehren und Erlernen der Sprache als Vorbild fuer
die eigentuemlichen Moeglichkeiten aber auch fuer die
unabaenderlichen Schranken (Grenzen) eines solchen Vorganges
dienen.  (serve as a paradigm for the inherent possibilities and
limitations of such a process.)

     Es ist in dieser Hinsicht das Denken des Menschen ein
Spiegelbild seiner Existenz, insofern als es in beiden Bereichen
um eine illusorische Unbedingtheit geht, welche manchmal mit dem
geheimnisvollen Namen Freiheit bezeichnet wird.  Wir stellen uns
vor, dasz was wir "sind", i.e. unser Sein, unabhaengig von den
Umstaenden des geistigen und koerperlichen Lebens waere,
unabhaenging von dem, was wir wissen, denken, und fuehlen;
unabhaenging von dem, das wir hoeren und sehen, essen oder
trinken, unabhaenging von der Sprache die einer spricht, von den
Schmerzen die er leidet, von den Hoffnungen, die er hegt.  Dies
von allen Unabhaengige heiszen wir des Menschen Seele, und von
ihr vermoegen wir uns nicht vorzustellen, dasz sie jemals
vergehen wird.  Wir vermoegen uns aber auch ihr Entstehen nicht
vorzustellen; es ist unser einem unbegreiflich dasz es eine
Vergangenheit gab, wo "die Seele" nicht gewesen ist, dasz sie zu
einem gegeben Zeitpunkt ins Dasein gerufen worden sein sollte;
obgleich das gezeugt und geboren werden biologisch mit groszer
Genauigkeit festzustellen ist.  In dieser Hinsicht ist
vermeintliche Existenz der Seele von allem anderen, das wir
erleben, unterschieden.

     Tatsaechlich aber scheint mir das Entgegengesetzte der Fall
zu sein: wir sind nicht unabhaengig von der Umwelt, sondern es
ist die Umwelt, aus der wir hervorgehen, die lebenslang auf uns
einwirkt, uns gestaltet und umgestaltet, bis sie uns zuletzt
wieder ausloescht, so dasz wir zeit unseres Lebens, Spiegelbilder
von ihr sind.

     Dennoch draengt es den Menschen, sich von der Umwelt zu
unterscheiden, sich auszuzeichnen, etwas Unabhaengiges, etwas
Selbststaendiges zu sein, etwas Besonderes zu werden.  Ich weisz
nicht was darueber weiteres zu sagen ist, als dasz tatsaechlich
die Unabhaengigkeit, die Selbststaendigkeit nicht weniger als die
Zugehoerigkeit zur Welt ein Teil des Menschenwesens ist; und dasz
dies ein Widerspruch ist, ein Paradox, das sich weder mit Worten
oder anders beheben laeszt, sondern dasz uns ertraeglich wird nur
indem wir es immer wieder aufs neue darstellen.

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