19981031.00
Vergleichbar und analog (parallel) der Hermeneutik, welche
den Glauben und die Vorbildlichkeit der Bibel als Muster fuer
alles Lesen, fuer alles (literarische) Verstehen setzt, ist eine
Erkenntnistheorie welche die Unvollkommenheiten und die
Widersprueche des Wissens auf die ungeloeste, und vielleicht
unaufloesliche Doppelnatur des Menschen als einzelnes und als
gesellschaftliches Wesen fuszt.
Inbegriffen in den meisten, wenn nicht in allen
herkoemmlichen Erkenntnistheorien ist die Voraussetzung, dasz es,
wie immer auch beschraenkt, ein unbedingt gueltiges Wissen gibt,
und dasz diesem Wissen eine mehr oder weniger erreichbare
Wirklichkeit entspricht. Dasz bei dergleichen Ueberlegungen
(Cogitationes) die Darstellung selbst als (pseudo) Wirklichkeit
fungiert, scheint nicht nur den meisten Lesern sondern auch den
(meisten) Verfassern zu entgehen.
Weit ueberzeugender scheint mir eine entgegengesetzte,
widersprechende Annahme, dasz nicht nur die Existenz einer
bestehenden Wirklichkeit fraglich ist, sondern mit dieser
Fraglichkeit auch die Gueltigkeit des Wissens (und der
Wissenschaft) derer wir uns ruehmen. Statt eine idealisierte
Vollkommenheit des Wissen und des Gewuszten vorauszusetzen,
scheint es tunlicher - in Cartesischem Geiste, - nichts
vorauszusetzen, nicht einmal das (selbst) Bewusztsein, sondern
auch dieses aus dem Denkverfahren immer wieder spontan in
Erscheinung treten zu lassen und aus ihm in vorsichtiger,
vorlaeufiger Weise wie fragmentarische Mosaikbilder die
Stueckelchen des Wiszbaren und des Gewuszten in Erscheinung
treten zu lassen.
Was hierbei, bei sorgfaeltiger und vor allem, bei ehrlicher
Untersuchung ins Auge faellt, ist, dasz obgleich der einzelne
Mensch in und aus sich selbst zu fuehlen, zu denken und zu
urteilen scheint, er dennoch in erstaunlich intrikater
(intricately) Weise an seine Mitmenschen gebunden ist, von ihnen
abhaengig ist, und ihre geistigen Eingebungen wiedergibt, so dasz
es ein taeuschender Irrtum ist, zu meinen, dasz der Einzelne nur
eigens Gefundenem Ausdruck gibt. Tatsaechlich ergieszen sich in
seinen Entwuerfen die Beitraege unaufgezaehlter und tatsaechlich
unaufzaehlbarer anderer Menschen.
Zwei Faktoren (factors) also charakterisieren (bezeichnen)
das Erkenntnisproblem. Erstens, der Wahn ueberhaupt zu erkennen,
denn erkenntnis , insofern sie nicht vollkommen, ausgiebig und
erschoepfend ist, ist keine Erkenntnis; und zweitens, der Wahn
selbst und unabhaengig zu erkennen. Laeszt man von diesen beiden
Voraussetzungen ab, so ergibt sich ein ganz anderes Bild , so
ergeben sich ganz andere Fragen um den Voragang des Erkennens und
die Ergebnisse dieses Vorgangs.
Entgegen der nun als voellig unberechtigten Voraussetzung
eines umfassenden und durchgaengigen Wissens entdeckens wir uns
als einzelne jedenfalls in einem Meer des Unwissens verloren,
fast ertrinkend, momentan, von Zeit zu Zeit oder von Augenblick
zu Augenblick daraus hervortauchend um einen Blick des gestirnten
Himmels zu erhaschen, ohne dasz wir auch im Geringsten faehig
waeren, die Gueltigkeit dessen, das wir zu erkennen meinen,
festzustellen, zu bestimmen.
Diese Gueltigkeit ergibt sich daraus, dasz es uns zu
ueberleben gelingt, that we manage to survive. Ueberhaupt finde
ich, dasz die pragmatische Pruefung des Wissens die letzthin
gueltigste ist. Denn dasz das Gewuszte dem Einzelnen (und der
Gesellschaft) das Leben und das Ueberleben ermoeglicht scheint
mir auszerhalb jeglichen Zweifels zu stehen.
Die andere Frage, ob denn neben der pragmatischen, der
zweckmaeszigen Bewertung des Wissens noch eine andere besteht
(gelten sollte), soll ruhig (dispassionately) erwogen werden: das
waere also eine aesthetische Bewertung, dasz das Wissen in seiner
vermeintlichen Symmetrie und Vollkommenheit "schoen" sei, oder
eine religioese Bewertung, dasz das Wissen in seiner Wahrheit und
in seiner Weisung auf eine Wiorklichkeit "heilig" sei. Aber weder
die aesthetische noch die religioese Bewertung laeszt sich aus
unmittelbarstem Erleben belegen, - und alle mittelbaren
Erklaerungen (zu diesen Fragen) sind verdaechtig. Denn
tatsaechlich gibt es ders willkuerlichen Rationalisierungen kein
Ende.
Wenn ich diese meine Ueberlegungen betrachte, faellt es mir
auf, in welch hohem Masze mein Urteilsverfahren auf diesen
erkenntnistheoretischen Gebieten dasselbe ist wie das
Urteilsverfahren des (hippokratischen) Arztes, der sich von
theoretischen Behauptungen nicht einschuechtern laeszt, sondern
selbstbewuszt und selbstsicher seiner eigenen Erfahrung, d.h. den
Eingebungen (Mahnungen) seiner eigenen Erinnerung folge leistet.
Dasz auch ein solches Verfahren gegen Irrtuemer keinen
unbedingten schutz bietet geht schon aus der beschreibung des
Verfahrens hervor: denn die Erinnerung ist oft taeuschend, und
noch taeuschender ist deren Deutung.
Schon die oberflaechlichste Ueberlegung sollte genuegen
(uns) zu ueberzeugen dasz jede behauptete Selbstgenuegsamkeit des
Menschen in Bezug auf sein Wissen Taeuschung ist, und noch dazu
Selbsttaeuschung. Schon die Sprache verraet es. Denn scheint
sie auch in erster Linie der Verstaendigung zwischen den Menschen
zu dienen, so ist doch in Abwesenheit der Sprache, besonders wenn
man die mathemtische Symbolik in sie einbeschlieszt, die geistige
Taetigkeit unvostellbar. Nichts waere dann davon denkbar als ein
ungeordneter Flusz traumhafter Bilder und Vorstellungen welche
nichts als die fluechtigsten Gefuehlsregungen hervorzurufen in
der Lage waeren (faehig waeren). Nein, zum Denken bedarf es der
Sprache; Begriffe sind unabtrennlich an Worte gebunden. Der
Denkenden vermag nichts, keinen Gedanken zu schoepfen, keine
Vorstellung zu hegen, es sei denn im Verhaeltnis zu sprachlicher
Mitteilung, in erster Linie dem anderen menschen, dem Naechsten,
und nur sekundaer und abgeschwaecht (in quasi onanistischer
Verfassung), ad se ipsum.
Das Wissen also ist inerster Linie, primaer, im eigentlichen
Sinne, niemals "mein" Wissen, sondern immer nur unser Wissen.
Und es besteht in der Not des Menschen einen Mitwissenden zu
finden und zu bewahren, eine vergleichbare Not, und ein Drang der
vergleichbar ist mit der Not die den Menschen zur Fortpflanzung
durch die geschlechtliche Befriedigung draengt.
In dieser Beziehung haben dann auch die Anhaenger sigmund
Freids, psychologischer Theorieen gewissermaszen Recht, wenn sie
behaupten, dasz alle Beziehungen zwischen menschen ihrem Wesen
nach geschlechtlich sind, Unrecht haben sie insofern die
umstrittenen Beziehungen nicht auf koerperliche Zusammenfuegung,
im urgeschlechtlichen Sinne, zielen; sondern auf ein geistiges
Zusammenwirken, das dem menschlichen Gemuet in seiner Art sur
Integritaet des Lebens, nicht weniger, und tatsaechlich
vielleicht mehr noch, notwendig ist als die eigentliche
Geschlechtlichkeit.
So entsteht aus dem Bestreben das Wissen (und das Gewuszte)
zu begreifen, ein schaerferes, ein klareres, ich will nicht sagen
ein neues Bild vom Menschen, als einem in ein Gesellschhaftsnetz
verstricktes Wesen, wobei dies Spannungen und Widersprueche
zwischen Einzelnem und Gesellschaft, zwischen Ich und Wir fuer
viele Unbestimmtheiten, Unzulaenglichkeiten und Paradoxe im
Menschenleben wenn nicht eine entgueltige Antwort, so doch eine
missliche Erklaerung bieten. Es ist bemerkenswert, dasz diese
Beziehungen bei den vielen Muehen die auf das Thema verwandt
worden, so unbeachtet geblieben sind; und doch liegt die
Erklaerung nahe, dasz dies der Fall sein mag, weil wir fuer die
Erklaerung auf den Einzelnen angewiesen sind, auf jenen Einzelnen
welcher um schoepferisch zu sein sich von der Gesellscvhaft
abtrennen musz, und wegen dieser, dem schoepferischen so
notwendigen Abtrennung, seiner tatsaechlichen Beziehung zur
Gesellschaft vergeszlich, wenn nicht gar veraechtlich wird.
Sehen wir nun von den tatsaechlichen (oder moeglichen)
Errungenschaften des einzelnen Geistes ab, so erkennen wir in der
(geistigen) Ueberlieferung nicht die Uebertragung (transmittal)
der Errungenschaften einzelner Menschen, sondern die
Errungenschaften ganzer gesellschaftlicher Kulturen deren Erben
wir sind. Diese gesellschaftlichen Ueberlieferung erkennen wir
in den religioesen Mythen, in der Geschichte, in den sogenannten
Naturwissenschaften, in der Mathematik, im Rechtswesen, in der
Politik, und auch, wenn wir genauer hinsehen, in der Kunst und
der Literatur. Es wird mir unmoeglich sein, weil ich selber die
noetigen Kenntnisse nicht besitze, und weilk es mir mangelt an
Zeit und an Kraft diese verschiedenen Faeden der Ueberlieferung
auf ihre Grandlagen (Urspruenge) zurueckzufuehren; aber die
welche mir am Schwierigsten erscheinen, will ich in Angriff
nehmen, in der Hoffnung, dasz der geneigte Leser durch die Spuren
die ihm mein denken in bisher unerforschten Gebioeten
hinterlaeszt dazu ermutigt und befaehigt wird den widerspruechen
die er in seinen Beziehungen zur ueberlieferung und in seiner
Gedankenwelt entdeckt in aehnlicher Weise nachzuspueren.
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