19981104.00

     Ich habe angefangen das elfte Kapitel des Briefes an die
Hebraeer zu lesen; und ich danke Ihnen fuer die Anregung dazu.
Der Ehrlichkeit halber musz ich es sagen, dasz mir das Lesen
dieser heiligen Verse nicht leicht faellt.  Sie reizen mich zu
einer kritischen Auseinandersetzung, und loesen damit zugleich
ein Schuldbewusztsein aus, ob es nicht laesterlich ist, sich
anzumaszen, biblische Texte kritisch, als Literatur, zu
beurteilen; und ob es nicht Ihnen gegenueber unhoeflich ist, und
noch schlimmer, Saetze welche Sie mir ausdruecklich als Ihnen
bedeutungsvoll empfohlen haben, wie ein gefuehl- und
gewissenloser Anatom im Sektionsfieber zu verunstalten und zu
verderben.  Dann aber besinne ich mich Ihres Hinweises auf die
Notwendigkeit das religioese Erleben mit sokratisch
unerschrockener Nuechternheit zu untersuchen; und diese vermeinte
Notwendigkeit soll mich rechtfertigen.  Bekanntlich fand auch
Kierkegaard zwischen Sokrates und Jesus keinen Widerspruch. Mich
aber bedrueckt der Gewissenszwang, die Forderung, das
Ueberlieferte als sinnvoll anzuerkennen, ob es so scheint oder
nicht; das Sinnwidrige zu glauben, weil es sinnwidrig, quia
absurdum, ist. Der Ausweg, zu beschreiben was man versteht und
was man nicht versteht, ohne sich zu einem Urteil verleiten zu
lassen, mag gangbar sein. Ich weisz auch das nicht.

     Ganz von auszen betrachtet, wenn ich die Uebersetzungen des
elften hebraeer Kapitels mit dem Original und mit einander
vergleiche, dann meine ich daraus zu erlesen, dasz sie in solchem
Masze von einander abweichen, dasz ich beschlieszen musz, dasz
eine definitive Deutung unmoeglich ist, dasz alle Uebersetzer,
und vermutlich alle Leser des Originals, den undeutbaren Text als
Thema fuer ihre eigenen Glaubensvariationen benutzen, vielleicht
sogar ohne auch nur den Versuch zu machen eine sachlich objektive
Erklaerung zu entdecken.

Estin de pistis elpizomenon hupostasis,
pragmaton elegchos ou blepomenon.

Est autem fides sperandarum substantia rerum,
argumentum non apparentium.

Now faith is the substance of things hoped for,
the evidence of things not seen.

Es ist aber der Glaube eine gewisse zuuersicht/
des/das man hoffet/
Vnd nicht zweiueln an dem/ das man nicht sihet.

And what is faith? Faith gives substance to our hopes,
and makes us certain of realities we do not see.

     Bestaetigt aber nicht das Gestaendnis, dasz man etwas
erhofft, die Tatsache, dasz man es nicht besitzt; dasz man
beduerftig ist? Lebt nicht der Hoffende in der Entbehrung dessen
das er erhofft? Sollte es dementsprechend wahr sein, dasz der
Glaube die Bestaetigung der Armut des Glaubenden ist? Ich haette
behauptet der Glaube sei die Bestaetigung seines Reichtums.

     Was aber Glaube als elegchos anlangt, mein Woerterbuch
uebersetzt elegchos mit "a means of testing, a trial, test,
disproval, refutation, II. an examination, scrutiny." Der Glaube
waere demnach eine Widerlegung, wohl nicht der Dinglichkeit des
unsichtbaren Dinges sondern seiner Unsichtbarkeit. Warum, frage
ich, ist es notwendig die Unsichtbarkeit zu widerlegen? Eine
solche Forderung scheint vorauszusetzten, dasz nur die
Sichtbarkeit die Wirklichkeit der Dinge verbuergt, dasz wo Dinge
unsichtbar sind wir des Glaubens beduerfen um uns ihrer
Gueltigkeit zu versichern? Ist dem wirklich so?

     Drauf folgt eine Historie welche alles was den Verfasser als
fromm oder erbaulich anmutet dem Glauben untergeschoben wird, von
Abels Brandopfer zu Sarah's Schwangerschaft zu Jakobs Segen.
Hinzu beklagt der Verfasser wegen Zeitmangels die Schicksale
Davids und der Propheten nicht auch dem Glauben zufuehren zu
koennen. Dergleichen Historie, so erscheint mir, verwandelt
Geschichte in Ideologie. Verliert nicht bei der Anwendung auf so
viel Verschiedenes, der Ausdruck "Glauben" seinen Sinn? Und
verliert nicht das Erzaehlte seine einzigartige Bedeutung, wenn
es pauschal als nichts mehr denn Beispiel eines und desselben
Begriffes angefuehrt wird?  Ich frage nur. - Wir werden
Gelegenheit haben diese Unbestimmtheiten zusammen zu ueberlegen.

     Was Hoelderlins Dichtung anlangt, so ist es nicht noetig,
dasz ich Ihren elektronischen Postkasten mit Ihnen
moeglicherweise ungelegenen Texten stopfe. "http://www.uni-
tuebingen.de/uni/nds/hoelder" ist die Adresse von welcher sie die
Hoelderlintexte der maszgeblichen Stuttgarter Ausgabe abrufen
koennen. Ich schlage Ihnen vor, so wie Sie Zeit und Stimmung
haben, dasz Sie Sich die Texte in dieser Reihenfolge anschauen:
Heidelberg, Der Nekar, Abendphantasie, Mein Eigentum, Lebenslauf,
Die Heimath, Der Abschied1, Elegie, Brod und Wein, Patmos

     Grueszen Sie bitte Ihre Frau von mir.

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