19981108.00

     Wenn ich mich recht besinne, war es in seinem Dialog
Sophistes, dasz Platon die Frage aufwarf, ob es so etwas wie
Gerechtigkeit gibt.  Die Antwort war ihm von sehr groszer
Bedeutung, weil das Wort, weil der Name der Traeger des Ideals
ist, - fast hatte ich geschrieben, weil das Wort das Ideal
verkoerpert. - und weil ihm vor allem an dessen Bestaetigung,
dessen Bekraeftigung lag.  Das Ideal: schicksalhafte Hybride von
Sprache und (Selbst)bewertung.  Und Platon, wenn ich mich recht
besinne, urteilte, dasz es Wahrheit, Schoenheit, Gerechtigkeit
und dergleichen als Gegenstaende geben _muss_, weil unbedingter
Wert ein unausrottbarer (ineradicable) Bestandteil des
menschlichen Bewusztseins ist.

     Ich moechte mich dieser Frage anders, auf induktivem Wege
naehern.  Ich beobachte, dasz wir Menschen uns vieler Worte
bedienen, viele Worte benutzen, ohne genau, - oder auch nur
ungefaehr zu wissen, was wir damit meinen.  Ob die Bedeutung des
Wortes tatsaechlich aus seinem Gebrauch entsteht, braucht nicht
entschieden zu werden.  Tatsache ist, dasz ein jeder der einen
Ausdruck vernimmt, und jeder der ihn ausspricht, ihm eine
Bedeutung zumiszt, welche immer nur teilweise ersichtlich ist,
und welche nur aus dem Rahmen in welchem der Ausdruck eroertert
wird und dann auch immer nur teilweise bestimmt werden kann.

     Mit am fruchtbarsten scheint mir diese Methode auf dem
Gebiete der Theologie, wenn wir in dieser Weise zu fragen
beginnen, was wir denn eigentlich mit Ausdruecken wie zum
Beispiel: Glauben, Hoffnung, Liebe meinen. Was wir uns bei den
Ausruecken Gott und Messias, was bei Himmelreich, bei Erloesung,
Auferstehung und Ewigem Leben vorstellen.  Endlose Debatten und
Gespraeche, auf Verhandlungen, Strittgkeiten und Uebereinkommen
auslaufend, sind von jeher diesen Fragen gewidmet worden.

     Wir setzen, platonischem Idealismus getreu, voraus, dasz die
Begriffe deren unsere Auseinandersetzungen gelten, eine Existenz
besizten welche von uns unabhaengig ist; dasz unser Denken ein
Suchen nach den seienden Begriffen und ihrer Wahrheit ist.  Ich
glaube aber feststellen zu koennen, und fest gestellt zu haben,
dasz dies nicht der Fall ist, dasz wir bestaendig Worte benutzen,
deren Bedeutung unbestimmt, deren Sinn unklar ist, versuchsweise,
von denen wir nicht wissen, was sie uns bedeuten: deren Bedeutung
uns klar erst im Laufe unseres Gebrauches von ihnen wird.

     Diese Beobachtung hat jedenfalls eine ontogenetische
Bestaetigung, insofern als das Kind die Ausdruecke die es von den
Erwachsenen hoert zu wiederholen lernt, eh es einen Begriff von
ihrem Sinn hat; dasz das das Kind sich sozusagen erst hernach,
nachdem es das Wort ausgesprochen hat, ihm einen Sinn
hinzubildet: und dasselbe tun auch wir, und haben unsere
Vorgaenger von jeher getan.  Es ist also kaum verwunderlich, dasz
unsere Vorstellungen stets im Werden sind, (that we forever
discover our understanding of words and their meaning to be in
process of development.)  Es ist kaum verwunderlich, dasz wir
Worte benutzen, eh wir eine (klare) Vorstellung von ihrem Sinn
haben, und dasz wir dem entsprechend unsere geistigen Leben mit
den Begriffsbestimmungen alter ueberlieferte Ausdruecke
verausgaben, von denen kein Mensch die korrekte Bestimmung
(definition) geben kann, weil sie nie eine praezise Bestimmung
gehabt haben, und eine solche auch heute nicht bekommen koennen,
wie dringend auch immer wir versuchen ihnen eine praezise
Bestimmung zu geben.

     Die Abwesenheit einer genauen, allgemein gekannten und
anerkannten Begriffbestimmung hat auf verschiedenen Gebieten
Folgen verschiedener Art. In der Philosophie und in den
sogenannten Geisteswissenschaften ist es der Anlasz zu nimmer
endender Wandlung der Gedanken und Vorstellungen.  In den
Naturwissenschaften herrscht der Vorsatz der Unanimitaet, der
Einmuetigkeit.  Sich widersprechende Begriffe, Wahrheiten welche
nicht mit einander uebereinstimmen, sind den Naturwissenschaften
nicht annehmbar.  Die sogenannte wissenschaftliche Methode soll
zwischen ihnen entscheiden.  Die wissenschaftliche Ausbildung
bewirkt die Einstimmigkeit der Adepten.  Die Wissenschaftskultur
besorgt dasz lediglich aktuell oder potentiell anerkannte
Meinungen gehoert und beachtet werden, und unterdrueckt alle
Meinungsverschiedenheiten welche auszerhalb der anerkannten
Methode zum Ausdruck kommen.

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