19990516.00 Ich habe weiter im Tagebuch des Verfuehrers gelesen, um die radikale Vermutung: die Bezeichnung des Verfuehrers als solchen sei ein ironischer Gedankengriff; und die Liebe des Verfuehrers zu seiner Cordelia, offensichtlich und bekannt unerotisch, sei tatsaechlich vergleichbar mit der agape, mit der Liebe Gottes zur Welt. Was an dieser Auslegung fehlt, jedoch vielleicht nur scheinbar, ist die Fuersorge des Gottes um seine Schoepfung: "Der Herr ist mein Hirte, Er wird deinen Fusz nicht fallen lassen." Obgleich ja der Verfuehrer sich auch als unendlich bekuemmert um den Ausstieg seiner Cordelia aus einer Kutsche erweist. In Summa: es musz erkannt sein, dasz die (literarische) Deutung unvermeidlich dem Stoff etwas hinzufuegen musz; dasz es weder Schrecken noch Aerger erwecken sollte den Urtext durch die Muehen des Auslegers verwandelt zu erkennen. Auch scheint mir dasz die literarische Groesze, dasz der (aesthetische) Wert einer Schrift in quasi-geradem (linear), Verhaeltnis steht zu des Textes Deutungsempfaenglichkeit. Ein Schreiben das keine Deutung zulaeszt, dasz vorgeblich keiner Deutung bedarf, ist unwesentlich, ist trivial. Ich bin mir bewuszt nicht nur, bisher nicht das Tagebuch vollstaendig, von Anfang zu Ende gelesen zu haben, sxo wenig wie die ihm voranstehenden Aufsaetze ueber die Verschiedenen Frauenbilder, Gretchen, Marie Beaumarchais, Donna Elvira, u.s.w., also den ersten Teil des Entweder Oder nur hoechst unvollstaendig zu kennen, sondern ins besondere den Zweiten Teil ueberhaupt noch nicht aufgeschlagen zu haben. Wenn eins sicher ist, so ist es dies, dasz der Inhalt dieser bisher ungelesenen Teile des Buches einen wesentlichen Einflusz auf mein Vedrstaendnis, auch auf das schon Gelesene, haben muessen. Mir zur Entlastung fuer meine Voreiligkeit musz ich hervorheben, dasz manchmal das Lesen auch nur eines einzelnen Kapitels, eines einzelenen Absatztes oder gar Satzes einen solch starken Eindruck hinterlaeszt, der wie ein Schluessel zu weit ausgedehnterem dient, ein Schluessel den es mir obliegt, beim ersten Erblicken an mich und in Verwahrnis zu nehmen. Die Forderung mit dem Urteil zu warten, das Urteil aufzuschieben erinnert an die Behauptung der Systembauer, der Sinn des Ganzen wuerde erst am Ende klar. In der Raserei zu welcher Kierkegaard durch diese Forderung getrieben wurde, liegt die Voraussetzung, dasz die Deutung einer Schrift keineswegs die Deutung des Ganzen sein brauchjt, vielleicht sogar das diese Deutung die Deutung des Ganzen nicht sein darf, - eben aus dem Grunde, das der einzelne Lesende in der Gegenwart erlebt und denkt, und dasz er deshalb in jedem Augenblick, in jedem Stadium seines Lebens zujr Entscheidung, zum Urteil, zur Stellungnahme gezwungen ist, und dasz diese nicht augeschoben werden kann, soll, oder darf, bis das Ganze gelesen ist. Hinzu kommt die offensichtliche Tatsache, dasz ein Teil einen Sinn zu besitzen vermag, welcher dem Ganzen entgeht; und dasz der Einbezug des Ganzen in der Sinn des Teils moeglicherweise mit dem Sinn des Ganzen in Widerspruch steht, und dasz bei einer gezwungenen Deutung des Ganzen, der Sinn dieses oder jenes seiner Teile, und vielleicht ihrer alle, verloren geht. Dies moechte besonders der Fall sein in Bezug aujf ein werk wie Enten Eller, das aus Briefen, aus Aphorismen, aus einzelnen Aufsaetzen, und aus einzelnen Tagebuch eintragungen zusammengestellt ist. Schon die Tatsache, dasz der text aus dem das veroeffentliche Buch besteht im Ursprung vorgeblich zum Teil aus einzelnen Zetteln zusammengelesen sein soll, scheint eine stchastische Deutungsweise weithin zu rechtfertigen. Wenn ich die Umstaende unter welchen das Tagebuch des Verfuehers entstan bedenke, dazu die Persoenlichkeit Kierkegaards, wie sie aus seinen Schriften erscheint, und seine ausgesprochene Sympathie, die Attraktion welche das Ironische fuer ihn darstellte, dann scheint es nicht nur erlaubt das Verfoererens Dagebog im Lichte der Ironie zu deuten, sondern unverantwortlich dies nicht zu tun. Nun ist dies eine aber unverkennbar: etwas im Lichte der Ironie zu deuten, heiszt seinen scheinbaren (ostensible) dargebotenen Sinn zurueckzustellen, und Raum fuer einen anderen mehr oder weniger naheliegenden, und dasz heiszt mehr oder weniger weithergeholten (far-fetched) Sinn freizulegen. Mit der ironischen Deutung geschieht dann eine ungeheuere Erweiterung eine unabsehbare Verwandlung des urspruenglichen Sinnes, welches das Geschriebene, die Schrift und ihren Sinn in einen anderen geistigen Bereich versetzt. Die Berechtigung der Teildeutung eines Werkes sollte fuer jeden Kenner von Goethes Faust unverkennbar sein: denn dies Werk besteht aus Teilen von so groszem unterschiedlichen Wert, dasz der Sinn der einelnen Szenen, der eingeflochtenen Gedichte verloren ginge, oder unerkannt bliebe, wenn sie ausschlieszlich als Teil des Ganzen gedeutet werden mueszten. Dies ikst besonders der fall wenn man, wie es aus Goethes Veroeffentlichung nahe liegt, die beiden, den ersten und den zweiten Teiles des Faust als ein ganzes betrachten sollte. Eine Zusammensetzung aus Einzelstuecken deren jedes nur ein sehr schwaches Licht auf den Sinn der anderen wirft, oder gar keines. Was sagt das Lied ueber den Koenig in Thule ueber die Walpurgisnacht aus, oder die Walpurgisnacht ueber das Thulelied? * * * * *

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