19990623.01
Bei der Betrachtung und Bewertung philosophischer
Bemuehungen, der eigenen oder der Bemuehungen anderer, soll die
Tatsache der hoechst unterschiedlichen Faehigkeiten der
verschiedenen Beteiligten nicht uebersehen werden. Denn selbst
wenn es einem Verfasser gelingen moechte eine analytische
Beschreibung von aeuszerster Klarheit, Eindeutigkeit und
Triftigkeit zu verfertigen, so hiesze (bedeutete) dies keineswegs
dasz es ihm gelungen waere sein Verstaendnis, seine Einsichten
auch nur einer kleinen Anzahl von Lesern, geschweige denn einer
Allgemeinheit, mitzuteilen. Der uebliche, zu erwartende Vorgang
ist, dasz das vortreffliche Werk, wenn es nicht voellig
uebersehen, ignoriert wird, verschieden von vielen verschiedenen
Lesern gedeutet wird, indem ein jeder es seiner Anlage, seinen
Faehigkeiten entsprechend versteht.
Es ist vorstellbar, dasz ein besonders begabter Leser die
Gedanken des urspruenglichen (original) Verfassers noch ueber
dessen Einsichten und Verstaendnis hinaus wuerde entwickeln
koennen. Wahrscheinlicher aber, und von der groszen Mehrzahl
seiner Leser, wird das Werk nur teilweise oder garnicht
verstanden, oder gar mehr oder weniger miszverstanden werden,
wenn eine Bewertung der verschiedenen Verstaendnisgrade
ueberhaupt erlaubt ist. Es entwickelt sich dann, je nach dem
Einfluszbereiches des Werks, eine Ueberlieferung, eine
Tradition, welche durch aeuszere Begriffe, wie etwa mit dem
Namen des Verfasser, oder seines Werkes, eingefaszt, und durch
diesen zusammengehalten, (held together), erhalten wird, eine
Tradition zu welcher das urspruengliche Schreiben zwar der Anlasz
war, welches aber trotzdem mit der Intention, Absicht des
Verfassers nur wenig, - oder fast garnichts, - zu tun hat.
Aus diesen Betrachtungen und Ueberlegungen folgt die
Einsicht, dasz jede philosophische Tradition, - sowohl wie die
Gesamtheit (totality) aller philosophioschen Traditionen - eine
kuenstliche Konstruction ist, (an aritficial conmstruct) welcher
sich der Einzelne bedient um seine Stellung in der Geisteswelt
(in the intellectual world) zu behaupten und zu verteidigen. Wie
abschaetzig auch immer man ueber die akademische Welt, ueber das
Universitaetswesen, herziehen mag, so scheinen doch die
Konkurrenzkaempfe die dort vor sich gehen ein Abbild dessen zu
sein was im geistigen Leben sonst, auch im privatem geschieht.
Denn es gehoert zum Wesen des Menschen dasz er sich behaupten
will. Er will sich in seiner beruflichen Stellung seinen
Kollegen gegenueber behaupten; er will sich aber auch in noch
gruendlicherer Weise in der Geisteswelt behaupten, indem er fuer
sich - und fuer andere - entscheidet was wahr, was wirklich und
was gueltig, was gut und in schwaecherem Sinne, was schoen ist.
Dementsprechend ist es hilfreich - und erbaulich - zu
erkennen, dasz auch das Geistesleben ein gesellschaftliches ist
dessen Folgen und Fruechte nicht nur eine persoenliche,
metaphysische oder religioese Bedeutung haben,r sondern starke
gesellschaftliche Bindungen, abgesehen von welchen es nicht zu
verstehen, nicht zu erklaeren ist.
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