19990706.00
Vorgestern, bein Aufrauemen, im Zusammenhand mit dem Anbau,
fand auf einem Boert im Keller die englische Uebersetzung von
Cassierers Philosophie der symbolischen Formen. Ich darf nicht
sagen, dasz ich klug daraus wurde, aber der Stoff und des
Verfassers Versuche damit zurande zu kommen interessieren mich,
selbst wenn ich den vom Verfasser abgesehenen Sinn nicht
begreife, und selbst wenn mich die wiederholten vergeblichen
Versuche ihn zu verstehen, zu der Schluszfolgerung leiten, dasz
vielleicht auch ihm dieser Sinn entgangen sein moechte, dasz er
eine letzthin gueltige Erkenntnistheorie nicht gefunden hat.
Und doch sind die Anstrengungen seinerseits einen solchen
Sinn zu beschreiben, und meinerseits ihn in dem Geschriebenen zu
entdecken, keineswegs wertlos. Der Wert liegt in dem Nachsinnen,
in dem Suchen. In allem Streben nach "der Wahrheit" liegt als
Widerspruch, dasz der Strebende im Voraus weisz, oder wissen
musz, dasz sein Ziel unerreichbar ist, und dasz der Beschlusz
seiner Bemuehungen nicht das Auffinden des Zieles sein wird,
sondern ein Vergleich (reconciliation) von Streben und Versagen.
Wenn ich Cassierers Werk lese, erinnert es mich einerseits
an eine Reisebeschreibung, andererseits an ein Gedicht, sagen
wir, ein Lehrgedicht. Die Beschreibung ist es einer Geistesreise
durch die philosophische und wissenschaftliche Ueberlieferung,
welcher der Verfasser sein Leben gewidmet hat, einer Reise um
deren Gruendlichkeit und offenbare Leidenschaftlichkeit, nebenbei
bemerkt, ich versucht bin, ihn zu beneiden. Ein Lehrgedicht ist
es insofern der Verfasser sich der Sprache bedient um ein Erleben
jenseits der Sprache mitzuteilen; wobei es, wie bei jedem anderem
Gedicht, unbestimmt bleiben musz, ob das, was der Leser dabei
denkt und fuehlt auch nur annaehernd mit des Verfassers
urspruenglichem Erleben vergleichbar waere.
Ich stimme mit ihm ueberein, dasz das Erkennen die Basis
jeglicher geistigen Taetigkeit ist, und demzufolge, die Pflege
und Steigerung des Erkennens sich unvermeidlich zum Erkennen des
Erkennens hinwenden musz. Der Drang zum Erkennen, zum Verstehen,
ist ein urspruenglicher menschlicher Trieb, wie denn auch das
Erkennen, das Wissen, Bedingungen, Voraussetzungen seines Lebens
sind, - ich sehe davon ab, dies Leben als irdisches oder
koeperliches Leben zu bezeichnen, weil ich nur ein einziges,
ungetrenntes Leben, m.a.W., kein geistiges, vom Koerper
getrenntes, kein himmlisches dem irdischen gegenseitiges, zu
erkennen meine.
Die Sorge um das Erkennen, die Philosophie, ist
dementprechend ein urwuechsiger Trieb, ein Beduerfnis, dessen
Anlagen in jedem Menschen ruhen, welches aber nur vereinzelt zum
Ausdruck, zur Verwirklichung kommt, und auch dann stets in mehr
oder weniger unvollkommener Weise. Mit dieser Naturanlage des
Menschen verglichen, musz die Haltung des Berufsphilosophen als
Karikatur erscheinen. Er stellt sich an dies allgemeine
Beduerfnis, das jedem Menschen in geringerem oder groeszerem
Masze innewohnt, in seiner eigenen gesellschaftlichen Gestalt zu
vertreten, zu verkoerpern, zu repraesentieren. Er sagt in seiner
Weise, er scheint zu sagen: Ich philosophiere fuer Euch alle, und
das ist eine Laecherlichkeit, wie wenn er sagte ich koche, oder
gar, ich esse fuer Euch alle, statt bescheiden seine Rezepte zu
verteilen. Tatsache ist, dasz ein jeder Mensch fuer sich selber
philosophieren musz.
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