19990723.00 Inzwischen haben sich, bei Gelegenheit einer Unterhaltung mit Klemens, meine Erwaegungen ueber das Christentum, ueber seine Soziologie und Psychologie weiter entfaltet. Die Grundtatsache der christlichen Lehre, dasz die Erloesung "durch Christi Blut" den Einzelnen mit Gott versoehnt, und dasz diese Versoehnung eine persoenliche, innerliche, private ist, welche ihn von der Welt ablenkt und ableitet, welcher ihn zu sich selbst, in sein Inneres fuehrt; welche ihm die Welt, das Saekulum, als fremd und feindselig gegenueberstellt. Diese allgemeine Entfremdung von der Welt enthebt ihn des Zwanges einer sonst normalen Feindseligkeit: es ist die allgemeine, religioes bedingt und begruendete Entfremdung von der Welt, welche einerseits die ganze Welt als feindselig erscheinen laeszt, welche andererseits aber die uneingeschraenkte, unbedingte Naechstenliebe ueberhaupt erst ermoeglicht. Diese Naechstenliebe ueberbrueckt die Kluft welche die"Erloesung" des Einzelnen zwischen ihm und den Unerloesten geschaffen hat. Ich habe es nun oft genug an meinem eigenen Leben, und an den Familienmitgliedern, an den Eltern, an Margrit und an Klemens beobachtet, von Laura ganz zu schweigen, dasz der Mensch ein tiefes Beduerfnis zur Feindseligkeit hat, wie tief das Beduerfnis zur Feindseligkeit ist, und dasz dies Beduerfnis dazu dient die Integritaet des Menschen als gesellschaftliches Wesen, das heiszt, in seiner Beziehung zu anderen Menschen zu bewahren und zu verteidigen. Der vorchristliche Mensch vermag nicht ohne die Feindseligkeit zu leben. Es ist die Erloesung des Einzelnen durch Christus, welche ihn zu der von Christus geforderten agape ueberhaupt erst befaehigt. Die Feindseligkeit ist, nicht anders als Schmerz und Sterblichkeit, eine unentrinnbare Eigenschaft des Menschendaseins. Das Christentum verleugnet die Feindseligkeit, wie es den Tod verleugnet und dem Menschen ein von Schmerz ungetruebtes ewiges Leben verspricht. Das Gebot alle Menschen zu lieben ist in seiner Utopie durchaus vergleichbar mit dem Versprechen des von Schmerz und Kummer unbeschwerten Lebens. Es hat aber mit der Naechstenliebe welche die Erloesungskluft ueberbruecken soll seine Schwierigkeiten. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmoeglich, aus dem Kokon der erloesten Innerlichkeit zu den Mitmenschen hinueber zu dringen. Diese Betrachtungen veranlassen ihrerseits eine neue Beriffsbestimmung der Erotik. Nicht lediglich die besondere geschlechtliche Vereinigung mit der Person des anderen Geschlechtes: die Vereinigung mit der Welt im allgemeinen, und mit dem Mitmenschen ins besondere ist die eigentuemliche Aufgabe der Erotik, eine Aufgabe von welcher das Christentum nichts zu wissen vorgibt. Ich denke, dasz obgleich der erotische Trieb ueberwiegend als geschlechtlich gedeutet wird, er darueber hinaus als gesellschaftsbildender Drang verstanden sein will. * * * * *

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