19990822.00
Wir hatten uns auf das Ende des Juli verabredet. Nun geht
schon der August zu Ende, die willkommene Kuehle hat des Sommers
bedrohliche Hitze vertrieben, und mahnt dasz es Herbst wird.
"Die Erndte ist vergangen /
der Sommer ist dahin /
vnd vns ist keine huelffe komen."
(Jeremiah 8:10)
Ich habe in den vergangenen Monaten, neben meinen
Bauarbeiten und meiner schwindenden aerztlichen Taetigkeit, etwas
ueber die (christliche) Liebe nachgedacht, die mir bei allem
Gruebeln von Tag zu Tag unverstaendlicher und geheimnisvoller
erscheint.
Die utopische Vorstellung von einer Welt in welcher alle
Menschen sich gegenseitig lieben und harmonisch in Frieden
miteinander leben scheint mir mit dem Wesen des Menschen
unvereinbar. Die Feindseligkeit (hostility) ist ein Bestandteil
des menschlichen Daseins nicht weniger als die Krankheit; und die
Aufgabe des Arztes jedenfalls ist es, beide zu verstehen, - sie
zu verleugnen ist verlogen, sie hinwegzuwuenschen ist belanglos,
- und seinen Patienten behilflich zu sein, den Schmerz, welchen
je Feindseligkeit oder Krankheit verursachen, zu tragen, zu
ertragen, und vielleicht in Verstaendnis und Mut und Zuversicht
zu sublimieren.
In einem gewissen Masze bedarf jeder Mensch der
Feindseligkeit gegen andere Menschen um seine eigene Integritaet,
um sein Selbstsein gegen das Fremde und gegen die Fremden zu
schuetzen. Der glaeubige Christ hat gut reden von Menschenliebe,
der er sich selbst laengst von der Welt abgewendet hat, und als
Nachfolger Christi als Feind des Weltlichen, oder jedenfalls von
der Welt befeindet, unter seinen Mitmenschen wandelt. Der bedarf
keiner weiteren selbstgemuenzten Feindseligkeit. Vielleicht ist
die von Christus geforderte Naechstenliebe ueberhaupt moeglich
nur mit geborgener, geretter, von der Welt abgewandter Seele, und
ist umso notwendiger als sein Gottesverhaeltnis den
Christenmenschen seinen Mitmenschen als Fremdling, wenn nicht gar
als Feind entrueckt hat. Wer aber als Gesellschaftsmitglied
unter den Menschen einheimisch ist, der vermag sich nur mittels
eines gewissen Maszes von Feindseligkeit ueber Wasser zu halten.
Was nun die christliche Liebe selbst anlangt, so wird sie
mir immer unverstaendlicher. Die Unterscheidung von Eros und
Agape vermag ich nicht nachzuziehen. In dieser Hinsicht habe ich
versucht mich von zwei Schriftstuecken aufklaeren zu lassen,
einem alten, dem Symposion Platons, und einem neuen, Kierkegaards
Enten Eller (Entweder Oder), aber vergebens.
Die Gleichsetzung des Eros mit dem Geschlechtstrieb scheint
mir ein verhaengisvoller Fehler, in tragisch-komischer Weise von
Sigmund Freud bestaerkt, welchen zu berichtigen die
Schwellenaufgabe (threshold-task) jeder ernsten Erotologie sein
musz. Denn dasz geschlechtlicher Verkehr auch in Abwesenheit
jeglicher Liebe moeglich ist, das beweist uns die Welt jeden Tag
aufs Neue. Dasz die Einbeziehung der Liebe in die
geschlechtlichen Beziehungen ein ethischer Imperatif, und ein
gesellschaftliches Desideratum hoechsten Grades ist, sind
Tatsachen die ich nicht bestreiten will, welche jedoch daran
nichts aendern, dasz, Freud ungeachtet, ein groszer, wenn nicht
gar der groeszere Teil erotischer Beziehungen, wie etwa zwischen
Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen Lehrern und
Schuelern, zwischen Aerzten und Patienten, guenstigen Falls sogar
zwischen Anwaelten und ihren Mandanten, und zwischen Freunden im
allgemeinen, mit Geschlecht und Geschlechtlichkeit nichts zu tun
haben. Der erotische Trieb ist der Trieb der Einsamkeit zu
entfliehen; ist der Trieb zu verstehen und verstanden zu sein.
Der erotische Trieb ist der universelle Drang zur
Vergesellschaftung, der Ausdruck des urgruendigen Beduerfnisses
des Menschen sich gesellschaftlich mit anderen Menschen zu
verbinden, ihre Sprache zu lernen und ihnen seine Sprache zu
lehren, um wortlich (literally) von ihnen verstanden zu werden
und um sie zu verstehen, um mit ihnen Waelder zu roden und
Straszen anzulegen, Doerfer und Staedte zu bauen, Werkzeuge,
Maschinen und Instrumente zu herzustelllen, Duets und Trios und
Symphonien zu spielen, Buecher zu lesen und zu schreiben, und
ganz im allgemeinen und im unzaehlbar besonderen, alles das zu
schaffen, wozu der Mensch als einzelner unfaehig ist.
"Also hat Gott die Welt geliebt" (Johannes 3:16) schrieb der
Evangelist, aber dasz diese goettliche Liebe, weil Gott
vollkommen ist, und des Menschen zu seinen Werken nicht bedarf,
eine erotische Liebe nicht sein kann, das verstand der Evangelist
von selbst, und bediente sich bekanntlich des Ausdrucks Agape, um
die goettliche Liebe als ein nichts beduerfendes Wohlwollen und
Wohlgefallen zu bezeichnen. Desgleichen Agape hat Jesus bewogen
sich fuer die Menschheit kreuzigen zu lassen, sich selbstlos,
nichts fuer sich selbst begehrend, fuer der Menschen Heil zu
opfern.
Soweit vermag ich der Theologie zu folgen. Problematisch
wird sie mir, wenn auch von mir die agapische Liebe gefordert
wird; jener bin ich so wenig faehig, wie ich der Weltschoepfung
oder der Auferstehung faehig bin. Weltschoepfung, Auferstehung
und Agape sind Gottes Sachen, "C'est son metier." wie Heine
gesagt haben soll. Der Mensch ist der goettlichen Liebe
unfaehig; er wird zum Schalk oder zum Luegner, wenn er sich ihrer
ruehmt. Die erotische Liebe, seinen Geist und sein Gefuehl, -
aber Gott bewahre, nicht unbedingt seinen Koerper -, mit anderen
Menschen verbinden zu muessen, das ist Sehnsucht und Schicksal
des Menschen. Der Mensch bleibe auf der Erde. Den Himmel
ueberlasse er, wie Heine sagte, "den Engeln und den Spatzen."
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