19990829.00
Es ist ein pikantes Gedankenspiel, die Bibel als Chronik der
Bildung der Gesellschaft und als Aufloesung derselben zu deuten;
das Alte Testament naemlich als Beschreibung der
Gesellschaftsgruendung; das Neue Testament als Zuruecknahme, als
Aufloesung, als Zersetzung der Gesellschaft.
Es scheint mir bezeichnend, dasz das Alte Testament die
Entwicklung der Gesellschaft unter den Menschen nur beilaeufig,
tangentially, obliquely ins Auge faszt. Gott schuf die
Gesellschaft nicht geradeweg, sondern nur umstaendlich. Er schuf
Adam und Eva und sagte zu ihnen: Vermehret euch. Die
Gesellschaft entstand als Folge der Vermehrung. Dasz diese
Vermehrung ihre eigene, schwierige und letztlich unloesbare
Problematik mit sich bringen sollte, (entail) geht zwar schon aus
der Geschichte Kains und Abels hervor; ergibt sich aus den
Legenden von Joseph und seinen Bruedern; bekommt doch aber nie
eine eigene ausdrueckliche Formulierung. Jahwe ist nicht
eigentlich der Gott des Einzelnen; er ist der Gott des Volkes,
und seine Gunst, sein Schutz, galt dem Einzelnen nicht als
solchem, sondern als Mitglied des auserwaehlten Volkes. Die
Hiobslegende und die Psalmen, die Prophetie Jesajas deuten auf
eine mehr persoenliche individuelle Beziehung zu Gott.
Es ist vielleicht auch nicht zu weit hergeholt, darauf
hinzuweisen, dasz Gott als Schoepfer in Eden urspruenglich in
Menschengestalt, oder jedenfalls in menschenaehnlicher Gestalt
erscheint, dasz er sich infolge seiner Schoepfung Genossen,
Bekanntschaft, Gesellschaft erwirbt; dasz dieser Gewinn an
Gesellschaft auf Seiten Gottes als der eigentliche Zweck seiner
Schoepfung gelten musz. Fragt man, Warum hat er das getan? so
lautet die einzige plausible Antwort: Um sich Gesellschaft zu
bereiten. Man bedenke, dasz die Schoepfung selbst die Handlung
eines gaenzlich Einsamen war; dasz aber der Schoepfer dieser von
ihm geschaffenen Gesellschaft wiederholt ueberdruessig wurde und
ihr zu solchen Momenten mit Zerstoerung drohte. Vielleicht doch
ein Abbild (oder Vorbild) menschlichen Erlebens.
Die Vergesellschaftung im Alten Testament ist Familiensache.
Und das Volk Israel ist Gottes eigentliche Familie. Mir scheint,
dies ist eine durchaus realistische Deutung, insofern als die
Gesellschaft durch Angleichung der Menschen aneinander entsteht
(comes into existence) und dasz diese Angleichung, diese
Homoiosis am wirksamsten im Zusammenleben der Familie geschieht.
So ist denn auch das Alte Testament eine Chronik von
Familienproblemen, einem nach dem anderen.
Dasz mit ihrem Wachsen die Familie zersplittert, ist
unvermeidbar. Man mag es vielleicht als Merkmal der
Vielzaehligkeit des juedischen Volkes betrachten, dasz dies so
nicht weiter gehen konnte, dasz sich etwas aendern muszte, und
dasz diese Aenderung in dem Erscheinen eines Messias bestand,
welcher die bisher intractable unloesliche Problematik der
Gesellschaft durch eine ebenfalls unloesliche Problematik des
Individuums ersetzte. Denn, dasz ein Vater seinen Sohn
aufopfert, der Mord am Kinde, bezeichnet mit eben der
Entgueltigkeit wie der Mord des Vaters die unwiderrufliche
Aufloesung der Familie.
Aller Weihnachtsjubel ungeachtet, erscheint Christus auf der
Welt familienlos. Seine eigene Mutter fragt er, Weib, was habe
ich mit dir zu schaffen? Sein irdischer Vater ist ihm fremd.
Sein himmlischer Vater laeszt ihn kreuzigen.
Auch die Beziehung Yahwes zu Maria seiner auserwaehlten Magd
laeszt zu wuenschen uebrig. Denn die Befruchtung geschieht
leidenschaftslos und lieblos. Weder die Schoenheit des Koerpers
noch irgendein Vorzug der Seele zog den Himmelskoenig zu der
unbefleckten Magd; sie war nichts als die stutenhafte Gebaererin
seines Sohnes.
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