19990903.00
Sie erwaehenen das so bekannte und gepriesene 13. Kapitel
des ersten Korintherbriefes. Mein Verstaendnis dieser Schrift
wandelt sich im Laufe der Monate und Jahre, ist niemals
abgeschlossen, und ist deshalb niemals entgueltig und niemals
verlaeszlich.
Als ich auf die Anregung Ihrer e-mail hin, dies Kapitel noch
einmal ueberlas, da fiel es mir auf, dasz dieser Text durch eine
eigentuemliche literarische Form gegenzeichnet ist. Es handelt
sich hier nicht um eine Beschreibung, nicht um eine Erzaehlung,
nicht um ein Bekenntnis, nicht um eine Erinnerung, nicht um eine
Begriffsbestimmung. Dies dreizehnte Kapitel des Korintherbriefes
ist schlicht und einfach: Propaganda, Reklame, in
zeitgenoessischer Sprache also "advertisement", in dem Bereich
meiner Vorstellungen ein Miszbrauch unserer Vorstellungskraft und
unserer Sprache.
Ich frage Sie: Ist es vernuenftig, ist es liebevoll zu
erklaeren:
et si distribuero in cibos pauperum
omnes facultates meas,
et si tradidero corpus meum it ut ardeam,
charitatem autem non habuero, nihil sum.
Als ob es moeglich waere ohne die Liebe sein Hab und Gut,
seinen Koerper, sein Leben seinen Mitmenschen zu opfern, als ob
nicht dieses Opfer gerade das leuchtendste Zeugnis der Liebe
waere. Was fuer ein Unsinn, was fuer ein Geschwafel!
Ach, was ist dies anders als eine Uebung in der
Schoenrednerei, ein rhetorisches Encomium der agape,
leidenschaftslos und deshalb lieblos, ausgerechnet und ironischer
Weise ein Beispiel der aes sonans und cymbalum tinniens welche
der Apostel so abschaetzig erwaehnt, ein Katalog von Begriffen
der die Problematik menschlicher Liebe nicht nur nicht loest,
sondern diese Problematik unter Schichten berauschend klingender
Phrasen vorsaetzlich verdeckt.
Meine Vorbehalte werden am Schlusz durch die ungereimte
Verknuepfung von pistis, elpis und agape bestaetigt. Denn der
Glaube, wie ich ihn erlebe, schlieszt die Liebe in sich, und
macht die Hoffnung ueberfluessig....
Selbstverstaendlich bin ich bereit, trotz meiner Abneigung,
diesen Text mit ihnen zu lesen; ich koennte mir aber vorstellen,
dasz Sie angesichts meiner Kritik, es vorziehen diesen Text
_nicht_ mit mir durchzunehmen.
Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie sich nicht an mir aergern.
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