19991003.00
Mir ist in den juengst verflossenen Wochen und Monaten eine
bedeutsame Einsicht, eine Erhellung ueber mein eigenes Ich
widerfahren, naemlich dieses: dasz ich von fruehster Jugend auf
mit einem ausgepraegten Besonderheitsbewusztsein, einem Gefuehl
des Alleinseins, Abseits, Vergessen und Verlorenseins beschwert
bin, und dasz mein ganzes Leben von den widerspruechlichen
Bestreben gepraegt ist, einerseits vollkommen ich selbst zu sein,
und den Menschen zu entfliehen, und andererseits mich mit den
Menschen von denen ich meinte, dasz sie mir nah stuenden, zu
verbinden, dadurch dasz ich mein Tun auf sie einstellte, dasz ich
ihren Wuenschen gefuegig war, dasz ich uns eine Lebenswelt
gestaltete welche uns gemeinsam umschlosz. So etwa in erster
Linie, meine Beziehung zu meinen Eltern, zu Margaret und Klemens,
zu meiner Schwester, zu meinen Patienten.
In diesem Sinne besorgte ich meinen Eltern ihr Haus,
besorgte meiner Schwester ihr Vermoegen, bereitete ihnen allen in
Konnarock sowohl als auch in Belmont ein Zuhause. Bot allen an
ihre Arbeit, oder meine Arbeit zu teilen und gemeinsam zu
verrichten; stand ihnen in jeder Muehe und Not und Krankheit bei,
ohne vergleichbare Gegenleistungen zu empfangen oder auch nur zu
erwarten.
Dasz diese meine Bemuehungen nicht durchweg erfolgreich
waren bekuemmerte mich kaum. Ich sah zwar die mangelnde
Bereitschaft meiner Eltern uns z.B. bei Klemens Geburt, bei
unserer Staphylokokken Epidemie auch nur in geringster Weise zu
Hilfe zu kommen, erkannte wie meine Schwester ihr Geld und Gut,
ihr Interesse, ihre Kraefte an fremde Menschen, an ihre "Freunde"
verausgabte; wie sie das, was ich ihr schenkte unterschiedslos
(indiscriminately) anderen zu Gute kommen liesz. Und Klemens ...
Nun in meinem siebzigsten Jahre, wird mir klar, inwiefern
ich in diesem Bestreben erfolgreich gewesen bin, und inwiefern
ich versagte. Es ist nicht nur die pauschale Ablehnung meiner
Person von Seiten der Schwiegertochter, nicht nur die
unverkennbare Feindseligkeit Margrits, veranschaulicht in ihrer
Weigerung uns ihr altes Auto als Scheinanlage hinter dem Hause
zur Verfuegung zu stellen; auch in Klemens unverkennbarer
Distanzierung in seiner beruflichen Taetigkeit und in seinem
Leiden an seiner Familie ist es offenbar, dasz ich jene
Vergesellschaftung die mir vorschwebte nicht habe erreichen
koennen.
Ich will diesen Miszerfolg keineswegs beklagen: Ich erkenne
in ihm eine naturgegebene Grenze durchaus vergleichbar mit den
Grenzen koerperlicher Kraft und geistiger Faehigkeiten, mit den
Grenzen der Gesundheit und mit der Begrenztheit zuletzt des Leben
als solchem.
Ich frage mich auch, ob es mir moeglich gewesen waere disen
Tatbestand frueher zu erkennen? Die Grenzen des (geistigen)
Wissens, die Grenzen der Politeia, die Schranken der von Wille
und Vorstellung gegebenen Welt sind mir ja laengst gelaeufig
geworden. Warum, frage ich mich, ist diese Taeuschung meinem
Gemuet so lange unentdeckt geblieben? Weil ich sie als
Lebensluege benoetigte? Besagt vielleicht diese abschlieszende
Erkenntis das bevorstehende Ende meines Lebens?
Ich bin es aber zufrieden in der Unvollkommenheit und
Unbestimmtheit ungefaehrer und unbestimmter menschlichen
Beziehungen zu leben und zu sterben.
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