19991117.01
Die Gestalt Luthers hat mich seit Jahren fasziniert. Zu
meinem Bedauern ist es mir nie gelungen mir eine Ausgabe seiner
Schriften im Urtext zuzulegen, ausgenommen seiner Bibel
Uebersetzung, die ich oft und gern zitiere.
Immer wieder erscheint mir Luther als das Individuum, das
sich um seines Seelenheils willen, wie Sokrates von seinem Daimon
getrieben, gegen die Gesellschaft der er entsprungen ist,
auflehnt; vergleichbar auch, wenn Sie mir die Geschmacklosigkeit
des Vergleiches vergeben, mit Jesus selbst in seinem Aufstand
gegen die Seelenherrschaft der Pharisaeer und Schriftgelehrten;
mit Kierkegaard in seinem Kampf gegen die daenische Staatskirche.
Doch komme ich ueber den Widerspruch nicht hinweg, dasz
dergleichen Aufstaende gegen die bestehende Gesellschaft nicht
umhin koennen, eine neue Gesellschaft zu gruenden, welche der
ueberwundenen zuweilen in erschreckender Weise aehnelt. So
scheint mir die Priesterschaft des Christentums der juedischen
Priesterschaft zu aehneln; und wie man heutzutage in Augsburg
schriftlich bekundet, ist am Ende zwischen der roemisch-
katholischen und der lutherischen Kirche nur ein geringer
Unterschied. Es liegt aber in der Doppelnatur des Menschen als
Einzelner und als Gesellschaftswesen, dasz Widersprueche dieser
Art immer wieder aufs neue hervorspriezen muessen, und sich nie
loesen lassen.
Ein zweites Thema, welches mich juengst beschaeftigte, ist
die Beziehung von Luthers Behauptung der Unfreiheit des Willens
zu der antik-griechischen Ethik, welche das Boese als Folge nicht
eines boesen Willens, sondern als Folge von Unwissen betrachtet;
und somit die Macht des Willens als Ursprung menschlicher
Handlung verneint. Diese Lehre welche z.B. Sophokles Darstellung
der Oedipuslegende, - Oedipus wurde zum Vatermoerder nicht weil
er seinen Vater toeten wollte, sondern weil er seinen Vater nicht
erkannte, - zu Grunde liegt, und welche Platon-Sokrates
ausdruecklich erklaerte: Kein Mensch tut wissentlich unrecht.
Wenn also ein Mensch suendigt, so tut er dies _nicht_ in Folge
eines vom Boesen beherrschten Willens, sondern weil er das Gute
nicht erkennt. Wenn ein Mensch das Gute erkennt, dann ist es
nicht in seiner Macht, das Boese zu tun. Wenn ein Mensch Gutes
tut so nicht weil in ihm ein Wille zum Guten ueber den Willen zum
Boesen siegt, sondern weil sich ihm die Erkenntnis des Guten
unwiderstehlich aufdringt. Inbegriffen in diese Ethik ist ja
auch die Vorstellung, dasz es das Wissen ist, nicht der Wille,
der die gute Handlung verursacht. Die Griechen nannten es das
Wissen um die Wirklichkeit. Luther nennt es den Glauben an Gott.
Nun frage ich Sie: Ist Glaube nicht auch ein besonderes
Wissen, das Wissen naemlich um das Goettliche? Kann ein Mensch
sich zu glauben entscheiden? Can a man "will" to have faith? Is
it not incongruous to say, that a man "decides to believe", or
"decides to have faith"? Der Glaube ist nicht Ausdruck des
Willens, sondern der Glaube ist ein Licht das die Seelenwelt des
Menschen erhellt, das ihm Erde, - und Himmel erleuchtet. Wenn
dem so ist, dann waere der lutherische Glaube durchaus mit dem
sokratischen Wissen vergleichbar. Mir scheint, dasz die
moralische Psychologie Luthers eine erstaunliche Aehnlichkeit hat
mit der moralischen Psychologie der Griechen.
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